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Queer Talk, Vol. 11: Über die Lust sich zu politisieren

Rico Schüpbach

Wenn das post-pandemische Zeitalter genau so wird wie das post-feministische, in dem wir uns ja angeblich befinden sollen, dann gut Nacht. Doch es gibt Hoffnung! Ich glaube fest daran, dass sich die Welt politisch ändern lässt.

Es ist natürlich Quatsch, dass wir uns im Postfeminismus oder Postkolonialismus befinden. Europa profitiert nach wie vor von kolonialen Strukturen. Der Reichtum und das aktuelle Ungleichgewicht zwischen globalem Norden und Süden basieren darauf. Ich weiss, diese Ausgabe sollte sich im positiven Sinne um Lust drehen, ich habe aber ehrlich gesagt überhaupt keine Lust, dass einfach alles so weiterläuft wie bisher. Vielmehr habe ich Lust am Dekonstruieren, um dadurch Neues entstehen zu lassen. Ich glaube, ich befinde mich selbst in einem Dekonstruierungsprozess, der aber durchaus gut und wichtig ist. Das hat unter anderem auch damit zu tun, dass ich zum Jahreswechsel meinen Wohnort gewechselt habe. Ich bin mit meinem Partner nach Buenos Aires, Argentinien gezogen. Sozusagen in die globale Peripherie, von Europa aus gesehen, in den globalen Süden. Ich habe eurozentristische Diskurse schon vor meinem Umzug kritisch gesehen, nur aus dem Süden hat sich meine Perspektive irgendwie nochmals geschärft. Während sich Europäer*innen sorgen, ob sie im Sommer in den Urlaub fliegen und ohne Maske ins Fitnessstudio können, wartet ein Grossteil der Menschen im globalen Süden überhaupt mal drauf einen Impftermin zu erhalten. Ans Reisen ist erstmal gar nicht zu denken, nur ein Bruchteil der Menschen kann sich das überhaupt leisten. In ganz Lateinamerika sind erst drei Prozent der Bevölkerung komplett geimpft.

Zu den konsumorientierten Wünschen meines Milieus kommt auch noch eine ordentliche Portion Politverdrossenheit hinzu. Übrigens tickt dieses Milieu in Argentinien ähnlich, wer es sich leisten kann, fliegt für eine Impfung nach Miami.Ich kann das verstehen. Die Themen sind müssig und das Rad der Politik mahlt viel zu langsam. Die grossen Themen der Zeit wie Pandemie, Klimakrise, Migration, und steigende Ungleichheit sind schier überwältigend. Die Komplexität fast unfassbar. Eigentlich will mensch doch nur einfach ein angenehmes Leben und schnell raus aus dem Albtraum. Mensch flüchtet sich in individuelle Lösungen, ganz nach dem Motto: Du musst nur weiter an dir arbeiten und alles kommt gut, dann kannst du deine Ohnmacht besser bewältigen. Endlos-Healing und dafür natürlich noch schön blechen. Ich frage mich ernsthaft, setzt die Politisierung nie ein?
Bei aller Verdrossenheit, in einem scheinen sich doch viele einig zu sein: So weiter machen wie bisher, können wir einfach nicht. Die Ressourcen sind irgendwann alle und das Klima so dermassen erhitzt, dass die Erde zur Hölle wird. Sämtliche oben genannten Probleme werden sich dadurch verschärfen. Es braucht politische Veränderung.

Wir dürften eine der letzten Generationen sein, denen man das Meritokratie-Märchen noch halb plausibel auftischen konnte. Wir haben das “sich ständig an sich arbeiten zu müssen”, um geliebt und erfolgreich zu sein, so dermassen verinnerlicht, dass wir es teilweise gar nicht checken. Ich bin selbst so, fast immer die persönliche individuelle Entwicklung vor Augen. Ermüdend. Denn die passiert doch auch unforciert. Jüngere Generationen werden dieses Paradigma zwangsläufig als leere Versprechen entlarven. Ich glaube auch nicht daran, dass sich die grossen Probleme mit technologischen Innovationen komplett lösen lassen. Ja, sie werden helfen, aber es braucht mehr. Schaut euch doch um, wer kann sich E-Mobilität leisten? Wer vegane Bio-Kost? Wer kann seine Flüge kompensieren, wer fliegt überhaupt? Ich glaube nicht an die Versprechen einiger weisser cis Männer wie Jeff Besos, Elon Musk und wie sie alle heissen.
Ich will nicht, dass sich nur mein soziales Milieu und Menschen meiner Herkunft ein besseres Leben leisten können, ich will, dass die verdammten Machtstrukturen einbrechen und etwas Neues entstehen kann. Diskriminierung lässt sich nicht einfach wegkonsumieren.

Es braucht politische Lösungen, es braucht mehr Frauen, mehr queere, non-binäre, marginalisierte Menschen, fette Menschen, Sexworker*innen, behinderte Menschen, und sowieso Leute, die einen Scheiss aufs weisse, mittelständische cis het Patriarchat geben, die mitreden und entscheiden und die entsprechenden politischen Veränderungen vorantreiben. Nicht einfach als Token, sondern als tatsächliche Entscheidungsträger*innen. Darauf hätte ich wirklich Lust.

Illustration: Patricia Wyler for fempop