Holistic IssueZeitgeist

I’m All In

Carina Iten

Ich liege auf dem Boden, meine Gedanken sind merkwürdig ruhig, meine Augen geschlossen. Um mich herum ist alles ganz ruhig, ganz still. Mein Körper beginnt langsam zu vibrieren, nur ganz sanft, kaum spürbar. Ich kenne dieses Gefühl, gleich beginne ich zu schweben. Ich löse mich langsam in Luft auf und verschmelze. Ich verschmelze mit dem Nichts und gleichzeitig mit Allem.

Eine Melodie erklingt und eine Frauenstimme holt mich sanft zurück: “The power of love is here now. The power of now is here now. The power of you and me is here to create magic on earth”. Als ich aus der Meditation aufstehe, ist das Lied längst fertig. Ich will dieses Gefühl nicht wieder verlieren, ich versuche es mir einzuprägen, in meinem Innern abzuspeichern. An manchen Tagen gelingt es mir ganz gut. Und an anderen ist das Gefühl weg in der Sekunde, in der ich meine Augen wieder öffne. Und dann bin ich mir nicht sicher, ob ich mir das alles nur eingebildet habe, oder ob das wirklich passiert ist.

Genauso fühlt sich die Welt für mich momentan an. Schliesse ich die Augen, kann ich die Magie nicht nur sehen, sondern spüren. Die Magie dieses Jahres, die Magie, die uns hier auf dieser Erde zusammenbringt, die Energie einer besseren Zukunft, einer Gesellschaft, die sich öffnet und miteinander geht und nicht gegeneinander.

2020 hat sehr viel aufgerüttelt, umgeworfen und neu geordnet. Es ist ein Jahr voller Wunder, Überraschungen, Durchbrüchen, Herausforderungen und Verzweiflung – im Inneren wie im Äusseren. Alter Muster wurden durchbrochen und Systeme fallen auseinander – auf politischer, gesellschaftlicher, kultureller und persönlicher Ebene.

Ich hatte in diesem Jahr Phasen, wo ich nicht wusste wohin mit all dem Glück und der Liebe in mir. Aber ich hatte auch Tage, wo Tränen meine täglichen Begleiter waren und ich das Licht am Ende des Tunnels nicht sehen konnte. Ich mag mich noch genau erinnern an den Tag, der alles in mir und um mich verändert hat. Es war ein Montag im Oktober. Ich sass im Büro als der Anruf kam und mich die Arztassistentin bat, noch am selben Tag in die Praxis zu kommen. Ihre Stimme nahm ich nur noch aus der Ferne wahr, in mir wurde alles ganz still, ganz blass und ich versuchte nach Luft zu schnappen, aber in meinem Hals bildete sich ein Stein, der mir die Luft abschnürte. Wie in Trance sagte ich mir immer wieder, es war doch nur eine ganz normale Routineuntersuchung. Nicht dieses Mal.

Erst versank ich in tiefer Dunkelheit. Freunde und Familie waren zwar da – aber am Ende des Tages lag ich alleine mit der Diagnose im Bett. Niemand konnte den Schmerz oder die Angst von mir nehmen. Zum ersten Mal in meinen Leben fühlte ich mich vollkommen machtlos, ausgeliefert und alleine. Ich hinterfragte alles – meinen Lebensstil, meine Arbeit, meine innere Zerrissenheit. Ein paar Tage befand ich mich apathisch und vollkommen gefühlskalt in einem Schockzustand. Ich existierte, aber ich lebte nicht. Ich fühlte nichts – schon lange nicht mehr. Und dann nach ein paar Tagen passierte etwas Erstaunliches. Ganz tief in meinem Innern gab es einen Riss. Ich konnte förmlich spüren, wie etwas in mir zerbrach. Es schmerzte und gleichzeitig fühlte ich mich befreit von diesem engen Gefühlskorsett, das ich mir selbst vor Jahren angezogen hatte. Und dann ganz langsam kamen Emotionen hoch. Emotionen, die ich jahrelang nicht mehr zugelassen hatte. Zuerst unendliche Scham, dann Angst, Verzweiflung und schliesslich eine tiefe Traurigkeit. Nicht primär über das aktuelle Geschehen, sondern über all das, was ich in den letzten Jahren unterdrückt hatte. Emotionen von zerbrochenen Beziehungen, Weltschmerz, unerfüllte persönliche Wünsche, Selbstsabotage, Schmerz der mir zugefügt wurde und Schmerz, den ich anderen zugefügt hatte. All die verpassten Chancen, all die ungesagten Worte, all die ungetanen Taten. Nach Jahren, wo ich mir einredete, dass ich keine Schwäche zeigen darf, dass ich alleine klar kommen muss mit allem, konnte ich mich endlich fallen lassen. Und nach ein paar Wochen kam schliesslich der Tag, an dem die Tränen aufhörten und sich in mir eine Kraft sammelte, die ich zuvor noch nie in meinem Innern wahrnahm. Ein unbekanntes Gefühl von Vertrauen, ein Gefühl, dass eine bessere Zukunft möglich ist – für mich und für uns alle.

Heute ist der Schmerz weg, was geblieben ist, ist eine schmale Narbe, die mich jeden Tag daran erinnert, was ich mir im OP-Saal geschworen habe: I’m all in.

Ich hoffe, dass das Jahr 2020 dasselbe mit unserer Gesellschaft macht. Ich hoffe, dass dieses Jahr dank der Pandemie, den politischen und gesellschaftlichen Tumulten und Unruhen und den Naturkatastrophen einen Riss in die Mauer unserer Gesellschaft reisst. Dass wir endlich wieder zu leben beginnen – nicht nebeneinander, sondern miteinander. Dass wir als Gemeinschaft wieder Zugang zu Emotionen bekommen, die in unserem Gesellschaftssystem keinen Platz oder Wert mehr hatten. Dass Toleranz, Respekt, Gleichberechtigung, Mitgefühl und Liebe keinen Floskeln bleiben, sondern den Grundstein für eine neue Gesellschaft bilden.

Was ich nicht erst in diesem Jahr gelernt habe, aber erst jetzt richtig verstanden habe, ist, dass nichts zufällig passiert und dass alles miteinander verbunden ist. Auf körperlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene. Natürlich können wir alles losgelöst voneinander analysieren. Aber wozu? In diesem Universum passiert nichts einfach so, nichts geschieht zufällig.

Für mich ist all das, was in diesem Jahr passiert ist ein Weckruf – ein Appell ans Bewusstsein der Menschheit. Zum ersten Mal in der Geschichte erfahren alle Menschen auf diesem Planten das gleiche Schicksal. Zum ersten Mal in der Geschichte sind wir alle mit denselben Ängsten und Sorgen konfrontiert. Zum ersten Mal sind wir alle gleich. Kein Status, kein Geld, kein Name kann diese Pandemie von dir fernhalten. Für das Virus sind wir alle gleich. Für das Virus sind wir eins.

The power of love is here now. The power of now is here now – wenn die Macht jetzt hier ist, war sie es schon immer. Denn sobald du das Wort now liest, ist es bereits wieder in der Vergangenheit. Wir müssen auf nichts warten, auf nichts hoffen. Wir haben eine bessere Zukunft jetzt in unserer Hand. Bist du all in?

Photocredits: Unsplash