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Weil Frauenstreik-Aufkleber am Rennvelo eben nicht reichen

Carla Holenstein

Diese Abhandlung ist eine persönliche. Sie hat vielleicht weniger mit Kunst zu tun, dafür mehr mit ihren Akteur*innen. Ein Plädoyer für mehr Authentizität und Selbstreflexion, was mir in Zeiten wie diesen besonders am Herzen liegt.

Ich bewege mich in einem tollen Umfeld. Die Menschen um mich herum sind kreativ, haben Ideen, sind mutig, gründen eigene kleine Firmen, haben Humor und teilen in vielen gesellschaftlichen sowie politischen Belangen ähnliche Einstellungen wie ich. Ich fühle mich verstanden. Fast immer. Geht es um feministische Anliegen seid ihr, meine Bekannten aus der Kulturbubble, am Mitdiskutieren und bringt eure Anliegen ein. Ihr postet Artikel über Gleichstellung, prangert den weissen heterosexuellen Cis-Mann* in seiner privilegierten Lage an, geht an feministische Veranstaltungen und seid bei Demonstrationen vorne mit dabei. Feminismus gehört offensichtlich auch für euch längst auf die politische Agenda. Soweit so gut. Wäre da nicht dieses leicht ungute Gefühl, welches sich in solchen Situationen bei mir breitmacht.

Aber ebenso sehr benötigt Feminismus eine neue Aushandlung jeglicher Geschlechterrollen. Und hierfür kann jede*r von uns privilegierten Menschen aus der linken Kulturecke einen persönlichen Anteil leisten.

Feminismus ist ökonomisch, Feminismus ist strukturell, Feminismus ist politisch – kurzum: Feminismus ist ein gesellschaftspolitischer Kampf. Es geht um die strukturelle Unterdrückung von Menschen. Es geht um antirassistische sowie antikapitalistische Anliegen. Dafür gilt es zu kämpfen und ich bin froh tut ihr es mit mir. Aber ebenso sehr benötigt Feminismus eine neue Aushandlung jeglicher Geschlechterrollen. Und hierfür kann jede*r von uns privilegierten Menschen aus der linken Kulturecke einen persönlichen Anteil leisten. Dies ist aus meiner Sicht ein unglaublich wichtiger Teil des Feminismus, den so viele Menschen zu vergessen scheinen. Während wir also von der Politik und der Gesellschaft grosse Veränderungen fordern, sollten wir alle – zeitgleich – unsere eigene Geschlechterrolle reflektieren und neu verhandeln.

Emotionen: Frauensache?
Das Gefühl der Genervtheit schleicht sich vorwiegend bei euch Menschen ein, die ich kenne, weil ich Einblick in eure sozialen Beziehungen habe. Ich sehe wie ihr eure Partnerschaften gestaltet, ich sehe welche Rolle ihr in eurer Familie einnehmt und ich kriege Einblick inwieweit ihr euch bereits mit eurer eigenen Person, Rolle und mit euren eigenen Mustern auseinandergesetzt habt. Und hier fängt die Misere an. Das was ihr gegen aussen repräsentiert und fordert, entspricht so oft überhaupt nicht dem, wie ihr tatsächlich lebt. Ich wundere mich über die Diskrepanz eures Redens und eures Verhaltens. Ihr bezeichnet eure Beziehung als gleichberechtigt, weil ihr die gleichen Aufgaben übernehmt. Den Miteinbezug der emotionalen Verantwortung, die nach wie vor (zu) oft bei der Frau* liegt, wird hierbei aber oft nicht beachtet. Ich kenne euch persönlich und weiss, dass es leider oftmals die Männer* sind, die nicht im Stande sind, Gefühle zu zeigen, Emotionen zuzulassen und aufrichtig über Ängste und Schwächen zu sprechen. Auch sind es sie, die es oft nicht merken, wenn ihre Partnerinnen* im Haushalt alles im Überblick haben und sie lediglich Aufgaben ausführen. Oder aber sie merken es und ändern nichts daran.

Habt ihr Männer* euch in der Partnerschaft tatsächlich von der Verantwortung des (finanziellen) Versorgers gelöst oder schwirren da noch Ängste tief in euch drin, dass ihr dafür verantwortlich seid, die Familie (finanziell) zu versorgen? Ist eure Beziehung tatsächlich gleichberechtigt oder hört sich das einfach so gut an? Existieren für euch tatsächlich Beziehungsmodelle ausserhalb der heteronormativen Norm oder ist das lediglich eine ferne Idee, die euch nicht betrifft? Ist für euer Kind der Vater tatsächlich genau gleich wichtig wie die Mutter? Oder kann es eben doch nur dann gut einschlafen, wenn das Mami dabei ist? Könnt ihr Frauen* die erzieherischen Aufgaben tatsächlich euren Partnern* abgeben oder macht ihr es lieber selbst? Übergebt ihr eurem Partner* die handwerklichen Aufgaben, weil ihr es selbst nicht so gut könnt?

Seid aufrichtig, hinterfragt eure eigenen Rollen und Muster, eure Partnerschaft und eure Familien.

Ich glaube viele von uns haben innerlich eben doch den gesellschaftlich auferlegten Rollen kapituliert, welche uns gefangen halten. Ich merke, ihr möchtet Teil einer Veränderung sein. Darum: Seid aufrichtig, hinterfragt eure eigenen Rollen und Muster, eure Partnerschaft und eure Familien. Wir alle sind in gesellschaftlichen Normen und sozialen Konstrukten gefangen, da wir sie von klein auf erlernt und internalisiert haben. Das ist sehr nachvollzieh- und erklärbar und auch nicht weiter schlimm. Schlimm wird es erst, wenn wir uns darüber nicht bewusst sind und unhinterfragt innerhalb dieser Konstrukte handeln. Ist es nicht an der Zeit, dass wir uns von diesen soweit befreien, dass wir unsere eigene Identität frei von vorgegebenen Geschlechterrollen erschaffen und leben können?

Das neue Stark: Gefühle und Schwächen zeigen
Es reicht nicht ganz, sich einen Frauenstreik-Aufkleber ans Rennvelo zu kleben oder gelegentlich einen Facebook-Post rauszuhauen und sich dann als Feminist*in zu bezeichnen. Versteht mich nicht falsch, ich bin froh, um jede*n Befürworter*in des Feminismus. Ich wünsche mir, dass ihr weiter an Diskussionen und Veranstaltungen geht und euch politisch positioniert. Um zu den Problemkernen vorzudringen braucht es den ökonomischen und den politischen Kampf unbedingt. Genauso sehr wie den sozialen und den persönlichen Einsatz. Deshalb wünsche ich mir, dass ihr zeitgleich anfängt, euch selbst, euer Verhalten und eure Muster zu überdenken. Der Frauenstreikkleber ist somit nur der Anfang des Kampfes. Das Hinterfragen und die Weiterentwicklung der eigenen Rolle ist sicherlich der unbequemere Weg, als zu fordern und zu schreien. Aber dieser Weg lohnt sich und es wird euch nicht nur im feministischen Denken weiterbringen. Feministische Anliegen tatsächlich umzusetzen bedeutet eben auch, das eigene Verhalten weiterzuentwickeln, emotionale Verantwortung innerhalb der Beziehungen, in der Familie und in der Partnerschaft zu übernehmen. Dies bedeutet, dass wir unsere eigene Rolle in unserem System und in unseren Beziehungen überdenken müssen. Dazu gehört, sich selbst gut kennenzulernen und sich bewusst zu werden in welchen Momenten man selbst innerhalb eines Musters handelt. Erst wenn ihr euch dessen bewusst seid, seid ihr auch fähig dieses zu ändern.

Es braucht eine innerliche Entwicklung und eine grosse Portion Selbstreflexion. Eine Änderung beginnt immer zuerst im Inneren. Wirkliche Stärke bedeutet für mich, dass wir alle zu unseren Emotionen und Ängsten stehen können. Es ist aufrichtig. Und gerade in dieser Sache brauchen wir (männliche) Vorbilder, die genau das tun. Und genau das ist es, was ich bei vielen von euch nicht sehe. Wenn ihr persönlich damit beginnen würdet, euer Rollenbild Schritt für Schritt zu ändern indem ihr zu euch, inklusive eurer Ängste und Unsicherheiten steht, dann würdet ihr im besten Fall weitere Menschen dazu bringen. Das könnte wiederum zu einer tatsächlichen Neugestaltung eines patriarchalen Musters führen und in einem zweiten Schritt sogar zu einer Distanzierung von der festgefahrenen Vorstellung von nur zwei Geschlechteridentitäten. Das wünsche ich mir.

Innerer Antrieb vs. Trend
Ich sehe mich genauso in der Verantwortung. Vor lauter Feminismus und Stärkung der Frau* vergessen wir manchmal, euch Männer* darin zu unterstützen, euch eine neue Rolle definieren zu lassen. Diese kann vielfältig, fein und liebevoll sein oder aber auch ganz anders. Wir brauchen noch etwas Zeit und vor allem brauchen wir starke Menschen, die sich für mehr Gerechtigkeit einsetzen und die Gesellschaft verändern wollen. Dafür müssen wir uns alle auf einer persönlichen, emotionalen Ebene verändern und weiterentwickeln, um so unser Umfeld und die Gesellschaft mit aufrichtigen Statements und Aktionen zu bereichern, welche aus dem Innern kommen und nicht aus Trends entstehen. Ich wünsche mir, dass eben genau ihr euch vermehrt mit eurer eigenen Aufgabe innerhalb des Feminismus beschäftigt und zuerst bei euch selbst hinschaut, wenn ihr von aussen einfordert. Ich spreche euch, aus meiner Bubble an, weil ich weiss, dass ihr dazu fähig seid. Ihr würdet in eurem Umfeld wahrscheinlich rasch Gleichgesinnte treffen und euch dadurch vielleicht verstandener fühlen als je zuvor. Ich spreche euch an, weil ihr mir und Anderen in so vielem ein Vorbild seid und es auch in dieser Sache sein könnt. Ich spreche euch an, weil ihr euch in einem Umfeld bewegt, welches eine solche Änderung zulassen würde. Dies könnte Männer* und Frauen* aus anderen Kreisen dazu verhelfen, es euch gleich zu tun.

Also los, an die Arbeit!
Sich überdenken kann stets passieren, wenn ihr es zulässt. Es führt manchmal zur Verzweiflung, genauso oft aber auch zu grossen Entwicklungen und zum Gedeihen komplett neuer Gedanken und Haltungen. Es ist spannend und ich wünsche mir mehr davon, von uns allen. Machen wir uns an die Arbeit. Die kann euch leider niemand abnehmen und jede*r Einzelne muss den ersten Schritt selbst tun. Vielleicht entscheidest du dich für eine Ablenkung weniger und setzt dich mal ruhig hin und notierst dir ein paar Gedanken zu dir selbst.

Der perfekte Start, um über sich nachzudenken ist immer. Besonders in der jetzigen Zeit. Stell dich der Veränderung, stell dich den unangenehmen Fragen. Freu dich über sie.

Was beschäftigt mich? Was bedeutet für mich Männlichkeit/Weiblichkeit/Geschlechtsidentität? In welchen Momenten handle ich, weil “man” es so von mir erwartet oder ich mich nicht traue es anders als die anderen zu machen? Zu welcher Person kann ich komplett aufrichtig sein und meine tiefsten Ängste anvertrauen? Kann ich es überhaupt mir selbst gegenüber? Für was schäme ich mich? Woher stammt meine Scham? Wieso mache ich diese Dinge, für die ich mich schäme? Wieso verändere ich mein Verhalten nicht, wenn ich mich dabei nicht wohl fühle? Ist meine Beziehung wirklich so gleichberechtigt wie ich das gegen aussen kommuniziere? Fühle ich mich mitverantwortlich, wenn es um Veränderung geht oder sollen es politische Entscheide regeln? Bin ich aufrichtig zu mir selber, wenn es um meine Bedenken, Unsicherheiten, Ängste oder Sehnsüchte geht? Bin ich aufrichtig meinen Mitmenschen gegenüber?

Es gibt noch hunderte von solchen Fragen und sie alle sind – im weiteren Sinne – Teil des Feminismus. Sie führen dazu, sich zu überdenken, die eigene Rolle zu hinterfragen und so allenfalls eine neue eigene Rolle – fernab der gesellschaftlichen Norm – zu kreieren. Der perfekte Start, um über sich nachzudenken ist immer. Besonders in der jetzigen Zeit, da viele von uns mehr Momente allein und zuhause verbringen und die Ablenkungsmöglichkeiten schrumpfen. Stell dich der Veränderung, stell dich den unangenehmen Fragen. Freu dich über sie. Ich wünsche mir für euch und für uns alle, dass wir uns so von festgefahrenen Geschlechterkonstrukten befreien können.

Titelbild: Nicole Giger