“Das Thema gehört in die Schule, in alle Ausbildungen und alle gesellschaftlichen Bereiche”: Unsere #heroine Susan Peter
Cécile Moser
Gewalt an Frauen ist noch immer ein grosses Tabuthema. Dass sich die Thematik aber durch alle Schichten, Altersgruppen und Kulturen zieht, und jede 4. Frau im Laufe ihres Lebens davon betroffen ist, scheint mittlerweile bekannt. Wir sprachen mit Susan Peter, Geschäftsführerin der Stiftung Frauenhaus Zürich, was es in diesem Bereich in der Schweiz noch braucht, wie man Opfern helfen kann und welche Auswirkungen der Lockdown auf häusliche Gewalt hat.
Wie sind sie zu ihrer heutigen Tätigkeit gekommen und wie muss man sich Ihren Arbeitsalltag in wenigen Worten vorstellen?
Ich bin einerseits Sozialpädagogin und habe 1984-1992 im damaligen Frauenhaus Zürich im Leitungsteam gearbeitet. Später war ich in der Kulturarbeit tätig und habe in diesem Rahmen ein Studium Kulturmanagement an der Uni Basel gemacht. Als die Stelle als Geschäftsführerin der Stiftung Frauenhaus Zürich frei wurde, war das für mich perfekt, denn das Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder bewegte mich natürlich weiterhin. Nun kann ich mein gesellschaftspolitisches Anliegen und meine diversen Erfahrungen in meiner jetzigen Tätigkeit prima verbinden.
Wie genau ist das Frauenhaus aufgestellt bzw. eingebunden, und wie sehen in der Regel die Abläufe aus?
Das Frauenhaus ist ein stationärer Kriseninterventionsbetrieb für von akuter häuslicher Gewalt betroffene Frauen und deren Kinder. Jede Frau, die ins Frauenhaus eintritt, muss zuvor telefonischen Kontakt aufnehmen. Einerseits, weil der Standort aus Sicherheitsgründen anonym ist und andererseits, um zu klären, ob es Platz gibt und ob das Frauenhaus der richtige Ort ist für die Situation der Frauen. Nach ihrem Eintritt werden die Frauen und Kinder in allen ihren Fragen und Bedürfnissen gestützt und soweit wie möglich unterstützt.
Welche Hilfestellungen werden vor Ort geboten, wie sieht diese Unterstützung aus?
Das beinhaltet als erstes viele Gespräche, bei denen sie erzählen können, was sie an Gewalt erlebt haben. Nicht wenige Frauen und Kinder sind stark traumatisiert. Diese Frauen brauchen vor allem auch Zeit und Raum, um anzukommen und etwas zur Ruhe zu kommen. Anschliessend finden regelmässige Beratungsgespräche statt, in denen sie juristisch-rechtlich beraten, sozial-pädagogisch begleitet und in sozialarbeitsspezifischen Themen beraten und unterstützt werden. Und das sind sehr viele verschiedene Themen. Mit den Kindern wird regelmässig gespielt und je nach Alter ausgetauscht. Auch die Kinder und Jugendlichen sind von der familiären Gewalt betroffen und brauchen auch ihren regelmässigen “Raum” für die Verarbeitung.
Wer kommt zu ihnen? Was sind die Hintergründe?
Häusliche Gewalt kommt in allen sozialen Schichten, in allen Kulturen und in allen Altersgruppen vor. Jede 4. Frau in der Schweiz ist durchschnittlich einmal in ihrem Leben von häuslicher Gewalt durch ihren Partner, Ehemann oder Ex-Partner betroffen. Dies beinhaltet viel psychische Gewalt, jedoch auch viel sexuelle und körperliche oder auch ökonomische. Oft sind es mehrere Formen gleichzeitig und häufig in einer zunehmenden Dynamik. Je länger die Gewalt andauert, desto heftiger wird sie. Auch Stalking durch einen Expartner ist nicht selten.
Wie nehmen Sie häusliche Gewalt wahr, hat sich in den letzten Jahren etwas verändert?
Bis 2007 fehlte die systematische Erfassung der Gewalttaten durch die Polizei. Das heisst wir können zwar steigende Zahlen in den letzten Jahren feststellen, doch ob diese so sind, weil sie besser erfasst werden oder sich die Opfer mehr getrauen oder ob die Gewalt effektiv zunimmt, kann aufgrund von fehlenden Vergleichszahlen nicht festgestellt werden. Was sicher neu ist und auch sehr häufig, sind die Gewaltformen durch Social Media – wie spezifisches Mobbing, Morddrohungen oder Verleumdung.
“Es wird sich vermutlich alles erst später zeigen, was da hinter verschlossenen Türen an Gewalt geherrscht hat.”
Der Lockdown ist für viele Paare und Familien eine grosse Herausforderung. Wie bekommen sie das zu spüren?
Aktuell nicht wirklich. Die Frauenhäuser sind zwar seit Wochen praktisch alle voll. Doch das gibt es immer wieder, da es in der Schweiz leider viel zu wenige Frauenhaus-Plätze gemäss EU-Richtlinien gibt. Dass das Telefon aktuell nicht so häufig läutet im Frauenhaus wie sonst bzw. wie vermutet, hat wahrscheinlich damit zu tun, dass die Frauen zuhause eine noch grössere Kontrolle durch den nun ständig anwesenden Partner erleben. Das heisst, sie haben kaum die Möglichkeit, sich Hilfe zu organisieren. Es wird sich vermutlich alles erst später zeigen, was da hinter verschlossenen Türen an Gewalt geherrscht hat.
“Dieses hierarchische Denken liegt in einem konservativen Verständnis von Geschlechtern begründet: Was ist ein richtiger Mann? Was hat eine Frau zu tun oder was darf sie nicht tun? Und das kommt gar nicht nur bei anderen Kulturen vor, das gibt es auch bei nicht wenigen sogenannten ‘Schweizer-Männern’.”
Gibt es klassische Opfer-Täter-Strukturen, die Sie immer wieder beobachten?
Jede Frau und jede Situation sind grundsätzlich individuell und verschieden. Doch es gibt gewisse Muster, die sich abzeichnen: Die allermeisten Täter (die nicht nur einmalig gewalttätig werden), wenden Gewalt an, weil sie der Ansicht sind, sie hätten das Recht dazu und weil sie in Form von Gewalt die Kontrolle und die Macht über die Frau bzw. die Situation haben wollen. Ihrer Meinung nach stehen ihre eigenen Bedürfnisse über denjenigen der Frau (bzw. der Kinder). Dieses hierarchische Denken liegt in einem konservativen Verständnis von Geschlechtern begründet: Was ist ein richtiger Mann? Was hat eine Frau zu tun oder was darf sie nicht tun? Und das kommt gar nicht nur bei anderen Kulturen vor, das gibt es auch bei nicht wenigen sogenannten “Schweizer-Männern”.
“Nur die gewalttätige Person kann ihr Verhalten durch Einsicht ändern – und nicht das Opfer.”
Also spielen Geschlechterrollen hier eine grosse Rolle.
Genau. Die “Beziehung auf Augenhöhe”, in der gegenseitig mit Respekt umgegangen wird (auch wenn es Meinungsverschiedenheiten und Streit gibt), fehlt dabei meistens. Und auf die Opfer – in über 90% Frauen – bezogen, zeigt sich häufig, dass sie über ein sehr kleines Selbstwertgefühl verfügen. Es sind Frauen, die dies gar nie entwickeln konnten oder durften, sehr früh sehr verletzt wurden (z.B. durch sexuelle Ausbeutung als Kind) oder dieses im Verlaufe des Erwachsenenlebens verloren haben. Gewalt durch den geliebten Mann oder Partner verunsichert sehr und ganz tief. Die allermeisten Frauen, die in den Frauenhäusern auftauchen, zweifeln sehr an sich. Und dies meistens schon über eine sehr lange Zeit hinweg. Denn sie meinen, sie müssten etwas ändern oder besser machen, und sie hoffen, damit die gewalttätige Situation beeinflussen und ändern zu können. Was eben nicht stimmt und ein Trugschluss ist. Nur die gewalttätige Person kann ihr Verhalten durch Einsicht ändern – und nicht das Opfer.
“Die heutigen Gesetze sind grundsätzlich – mit Ausnahme bei Vergewaltigung – gut, doch sie werden viel zu wenig konsequent angewendet. Auch betreffend Prävention wird viel zu wenig gemacht.”
Finden sie, in der Schweiz wird genügend gegen das Thema vorgegangen und darüber aufgeklärt?
Es gibt seit über 40 Jahren Frauenhäuser; sie waren die ersten, welche das grosse Problem aufgegriffen und nicht mehr weggeschaut haben. Die heutigen Gesetze sind grundsätzlich – mit Ausnahme bei Vergewaltigung – gut, doch sie werden viel zu wenig konsequent angewendet. Auch betreffend Prävention wird viel zu wenig gemacht. Erst allmählich – seit 2018 die sogenannte “Istanbul-Konvention” in Kraft getreten ist – bewegt sich ganz allmählich etwas. Doch da muss noch ganz viel gemacht werden. Denn das Thema gehört in die Schule, in alle Ausbildungen und alle gesellschaftlichen Bereiche.
Welche Schutz-Massnahmen bräuchte es noch?
Die Schweiz kennt bis heute keine gesamtschweizerische Strategie gegen Gewalt an Frauen und das ist schon sehr irritierend. Es gibt auch längst nicht in allen Kantonen Frauenhäuser. Warum ist das immer noch so? Die Kantone setzen einiges um, gewisse Kantone sogar sehr viel, doch zum Teil sind die kantonalen Unterschiede enorm gross. Auch aus Ressourcengründen könnte es doch gesamtschweizerisch koordinierte Projekte und Kampagnen geben, wie es das zu Gesundheit oder Aids schon längst gibt.
Was raten Sie Opfern?
Opfer sollen trotz berechtigter Angst, grossen Schuld- und Schamgefühlen versuchen, das Schweigen zu brechen und darüber zu reden beginnen. Das kann mit jemandem im Umfeld, am Arbeitsplatz oder bei einer Beratungsstelle sein – oder eben in einem Frauenhaus, wo dies auch anonym möglich ist. Damit würden sie sich eingestehen, dass sie Hilfe brauchen, a.), weil die Gewalt nicht ihre Schuld ist und b.), weil sie die Gewalt nicht oder nur sehr selten stoppen können. Erst mit dieser Einsicht kann die Frau beginnen, für sich (und ihre Kinder) die von Gewalt geprägte und ohnmächtige Situation zu verändern. So gibt sie sich eine Chance auf ein Leben ohne Gewalt. Und darauf hat sie ein Recht, denn Gewalt ist nicht gesund, für niemanden. Viele Frauen hoffen sehr oft, dass sich ihre Männer ändern und dass deren Versprechungen, gerade auch nach Gewaltanwendung, stimmen und wahr sind. Und niemand kann den Opfern verbieten, dass sie hoffen, das ist menschlich. Denn oft haben ihre Männer auch sympathische und liebenswerte Seiten. Doch spätestens bei der zweiten und allerspätestens bei der dritten Gewalterfahrung muss sie für sich und ihr Leben die Verantwortung übernehmen und sich professionelle Unterstützung holen.
Welchen Appell möchten sie an unsere Leser*innen und die Schweiz noch weitergeben?
Schaut nicht weg – weder bei euch selber, noch bei anderen! Wenn ihr merkt – oder meint zu merken – dass jemand in eurem Umfeld möglichweise von häuslicher Gewalt durch den Partner (oder auch die Partnerin) betroffen ist, sprecht sie respektvoll darauf an. Formuliert eure Vermutung und Beobachtungen und sagt, dass ihr euch Sorgen macht. Dabei braucht es vielleicht mehrere Versuche, denn das Eingeständnis vom eigenen Partner geschlagen zu werden, ist eben überhaupt nicht einfach. Ein/e vertrauensvolle/r und verlässliche/r, aber auch geduldige/r Gesprächspartner*in ist ganz wichtig. Denn das Opfer muss selber aus der Ohnmacht hinauskommen und merken, dass sie Hilfe braucht. Sie kann dazu eben nicht gezwungen werden. Das ist manchmal auch gar nicht auszuhalten, darum kann sich jemand auch dazu Unterstützung und Beratung organisieren.
Weitere Informationen unter www.frauenhaus-zhv.ch.
Photocredit: via Susan Peter