“Statt dem Wachstumswunder hinterher zu jagen, sollten sich Staaten auf die schwächsten Mitglieder konzentrieren”: Unsere #heroine Patrizia Laeri
Cécile Moser
Wirtschaftsjournalistin des Jahres, eine der 25 wichtigsten LinkedIn-Stimmen im DACH-Raum, erfolgreiche Kolumnistin: Patrizia Laeri lässt sich nicht aufhalten und sagt, was sie denkt. Hut ab für so viel Engagement in unserem Land. Wir sprachen mit der 42-Jährigen über die Degrowth-Bewegung, Frauen-Quote und was junge Medienfrauen in den letzten Jahre bewirkt haben.
Vorab: Bezeichnest du dich selbst als Feministin?
Klar doch, wie jeder Mensch, der überzeugt ist, dass alle Menschen gleich viel wert sind, dieselben Rechte und Pflichten, sowie dieselben Chancen im Leben haben sollen.
Wie hat es sich so entwickelt, dass du dich so für feministische Anliegen stark machst?
Das wurzelt tief in meiner Kindheit. Ich war der Sohn meines Vaters. Er hatte keinen Sohn, also durfte ich diese Rolle füllen. Mein Vater hat mir Programmieren und Schach beigebracht und Logik trainiert. Ich hatte also nicht unter dem Bruder-Effekt zu leiden wie viele andere Frauen. Die Wissenschaft weist nach, dass Frauen, die Brüder haben, weniger gefördert werden. Gleichzeitig hatte ich eine Mutter, die von zuhause aus keinen Beruf erlernen durfte und unter grössten Anstrengungen heimlich eine Lehre gemacht hatte. Das hat mich oft wütend gemacht. Es war für mich ganz klar, ein “Männerstudium” aufzunehmen und keine typische Frauenlaufbahn einzuschlagen. Meine Freude an Zahlen und Mathe haben dabei natürlich geholfen.
Was sind für dich aktuell die grössten Brennpunkte in der Schweiz?
Schau dir die Zahlen an. Gerade mal eine der 100 grössten Schweizer Firmen hat einen weiblichen Chef. Das ist 1 Prozent, das ist vernichtend einflusslos. Wir werden von internationalen Organisationen wie der OECD jährlich für unsere frauenfeindlichen Rahmenbedingungen gerügt. Frauen in Top-Positionen haben entweder keine Kinder oder einen Mann, der zuhause bleibt oder stammen aus reichen Verhältnissen. Wie sonst soll man sich das teuerste Betreuungssystem der Welt leisten. Wir haben keine Elternzeit und unser Steuersystem fördert den Einverdiener-Haushalt. Kein Land der Welt hält seine Bevölkerung vom Heiraten ab! Im Ausland versteht das kein Mensch. Mich würde eine Heirat 10’000 Franken pro Jahr kosten. Dieses Geld investiere ich lieber in die Ausbildung meiner Kinder.
In Deiner Kolumne #aufbruch sprichst du auch über Themen wie Geld und Finanzen. Welche Beobachtungen machst du diesbezüglich?
Die Unterschiede beginnen schon im Kindesalter. Mädchen sind bereits ärmer als Jungs, es geht um den sogenannten Gender-Pocket-Money-Gap. Mädchen erhalten später und weniger Taschengeld als Jungs.
Und wie kommt es dazu? Welche Rolle spielt die Erziehung dabei?
Studien konnten auch zeigen, dass Eltern mit Söhnen ganz anders über Geld sprechen als mit ihren Töchtern. Mädchen werden eher angehalten zu sparen, zu budgetieren. Es wird also eher langweilig und fantasielos darüber gesprochen. Mit Jungs spricht man dagegen eher über den Vermögensaufbau. Wie kann man investieren, Risiken eingehen, mit Krediten umgehen und unternehmerische Träume verwirklichen.
Du bist selbst Mütter von zwei Söhnen. Wie erziehst du diese und worauf achtest du besonders?
Machen wir uns keine Illusionen, im Durchschnitt ticken Mädchen und Jungs schon sehr verschieden. Ich habe alles versucht, aber meine Jungs haben die Puppen im Spielzimmer nicht einmal angerührt, den Puppenwagen hingegen mit einer Kreativität in Seifenkisten oder Bagger umgewandelt, das ich nur staunen konnte. Mein Erstgeborener hat mit neun Monaten schon darauf beharrt, vor jeder Baustelle zu stoppen und Krane zu beobachten. Sie kämpfen auch oft, bis Blut fliesst. Ich bin oft fassungslos. Aber Experimente mit männlichen und weiblichen Säuglingen zeigen, dass sie im Schnitt sehr unterschiedlich reagieren. Wir sind einfach verschieden und das ist gut so und bereichernd.
“Bei der Erfindung unseres Wirtschaftssystems hat Mann einen ganzen Sektor vergessen. Den wertvollsten überhaupt, die Care-Wirtschaft.”
Als Wirtschafts-Journalistin und -Reporterin beschäftigst du dich auch mit systemischen Problemen in unserer Wirtschaft. Was sind dort deine Hauptanliegen bzw. wo siehst du die grössten Probleme und Unterschiede?
Schlimm ist, dass die klassische “Frauenarbeit”, die Care-Arbeit bei weitem nicht so wertgeschätzt und bezahlt wird, wie “Männerarbeit”. Bei der Erfindung unseres Wirtschaftssystems hat Mann einen ganzen Sektor vergessen. Den wertvollsten überhaupt, die Care-Wirtschaft. Er ist laut Oxfam 10.8 Billionen Dollar wert, also dreimal so viel wie die globale Tech-Industrie zusammen. Aber Millionen von Mädchen und Frauen erhalten keinen Rappen für diese oft lebenswichtige Arbeit wie die Pflege von Babies und Betagten. Solange dies nicht gemessen, bezahlt und in die wichtigsten Kennzahlen wie das Bruttoinlandprodukt einfliesst, sind alle ökonomischen Rechnungen falsch. Glücklicherweise setzen sich mittlerweile auch mächtige Wirtschaftsinstitutionen wie OECD und IWF dafür ein, dass “Frauenarbeit” nicht mehr abgewertet wird.
Was wünschst du dir für die Schweizer Wirtschaft für die anstehende Dekade? Wo sollen wir 2030 stehen?
Mehr Chefinnen. Mehr Perspektiven. Mehr Vielfalt. Mehr Experimente. Mehr Nachhaltigkeit. Mehr Digitalisierung.
“Das seit Jahrzehnten andauernde freiwillige Umdenken ist gescheitert. Wer dies bestreitet, ist entweder zynisch oder kann nicht rechnen. Eine temporäre Quote ist als Anstoss unerlässlich.”
Eine Möglichkeit für mehr Chefinnen, wäre die Frauen-Quote. Wie stehst du dazu?
Ich habe die elende, einsame, einflusslose Zahl ja bereits genannt, wir haben 2020 1 Prozent weibliche Chefinnen an der Spitze der Wirtschaft. Das seit Jahrzehnten andauernde freiwillige Umdenken ist gescheitert. Wer dies bestreitet, ist entweder zynisch oder kann nicht rechnen. Eine temporäre Quote ist als Anstoss unerlässlich. Sonst warten wir noch 257 Jahre bis zu Gleichstellung. So viel Zeit haben wir beide nicht.
Was in Anbetracht des aktuellen Klimazustands unabdingbar ist, ist eine neu gedachte, humanere Wirtschaft. Siehst du hier auch Zusammenhänge zum Feminismus und einem Aufbrechen der patriarchalen Strukturen?
Geht Wohlstand ohne Wachstum? Das ist eines meiner Lieblingsthemen. Umweltökonom_innen leisten hier herausragende Arbeit. Sie bringen den Wachstums-Imperativ in den Wirtschaftswissenschaften gehörig ins Wanken und führen die Degrowth-Bewegung an. Der Wachstumszwang war jahrelang unbestritten. Nun merkt man aber auch in der Mainstream-Ökonomie, dass Menschen auch glücklich und wohlauf sein können, ohne dass sie immer noch mehr “Stuff” kaufen. Die aktuellen Wirtschaftsnobelpreisträger Esther Duflo und Abhijt Banerjee argumentieren gar, dass keine ihrer Studien, noch Daten beweisen, dass ein möglichst hohes Bruttoinlandprodukt erstrebenswert sei, zumal es nichts über die Verteilung des Wohlstandes aussagt. Statt dem Wachstumswunder hinterher zu jagen, sollten sich Staaten auf die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft konzentrieren. Sie bilden, gesundheitlich absichern und sozial unterstützen.
Im Dezember hat LinkedIn dich bereits zum zweiten Mal zu einer der 25 wichtigsten Stimmen im DACH-Raum gewählt. Was bedeutet dir so eine Auszeichnung? Wie nutzt du deine Stimme?
Für mich war das überwältigend. Ich hatte vorher nie eine Chance, nur annähernd auf die Nominationsliste für Journalistenpreise zu kommen – auch wegen meines Geschlechts. Technologie deckte plötzlich genderneutral auf, dass ich mit meinen Texten die Leute erreiche, Diskussionen anstosse und die Beiträge im ganzen DACH-Raum geteilt werden. Natürlich prüft auch ein menschliches Editorial Team die Posts auf Qualität, aber die Daten sprachen einfach für sich. Ich erreiche mit meinen Posts auf LinkedIn mittlerweile bis zu 300’000 Views. Das sind doppelt so viele Menschen wie eine ECO-Sendung Zuschauer hat. Die Medienwelt steht Kopf. Kürzlich zeigte eine Studie, dass Leser_innen stärker den Menschen vertrauen, die Inhalte teilen, als der Quelle dahinter. Medienhäuser tun deshalb gut daran, wenn sie ihre Journalistinnen als vertrauenswürdige Multiplikatoren und Distributoren einspannen.
“Es war natürlich unfassbar, dass ich mit meinen feministischen Artikeln in der kritischen Schweizer Journalisten-Szene punkten konnte. Die Zeiten ändern sich wirklich.”
Für Deine Arbeit bei ECO und Blick wurdest du zur Wirtschaftsjournalistin des Jahres (Rang 1) und Kolumnistin des Jahres 2019 (Rang 3) gewählt. Was bedeuten dir diese Auszeichnungen? Wie wichtig sind solche Anerkennungen im Berufsleben?
Nach den Algorithmen haben es dann auch noch die Menschen gemerkt (lacht). Es war natürlich unfassbar, dass ich mit meinen feministischen Artikeln in der kritischen Schweizer Journalisten-Szene punkten konnte. Die Zeiten ändern sich wirklich. Notabene: In der Jury waren mehr Frauen und plötzlich gab es auch viel mehr weibliche Preisträgerinnen. Deshalb ist es so wichtig, dass sich Frauen auch als Jury-Mitglieder engagieren.
In punkto Feminismus und Gleichstellungs-Themen scheint sich in den letzten Jahren etwas zu tun. Die mediale Aufmerksamkeit ist riesig, was wir auch mit fempop zu spüren gekriegt haben, als es vor drei Jahren los ging. Nimmst du das auch so wahr?
Das ist vor allem auch den jungen Medienfrauen zu verdanken. Das ist eine ganz neue Generation, die sich gegenseitig unterstützt, weiterkommen will und digital bestens vernetzt ist. Die leben real empowerment. In diesem Sinne, danke, dass es euch gibt. Folgt fempop!
Photocredit: Peter Hauser