Opulence IssueZeitgeist

The Art Of Being Too Much

Donjeta Selmanaj

Du bist zu selbstbewusst, zu offen, zu frech, zu laut, zu direkt, zu sexy, zu dominant, zu zickig, zu emotional, zu launisch, zu sozial, zu grosszügig, zu egoistisch, zu verrückt, zu gemein, zu nett, zu leise, zu laut. Zu viel. Zu viel. Zu viel. 

Wie oft ich diesen Satz schon gehört habe. “Du bist zu …”. Ich bräuchte wohl 100 Hände, um all die Momente zu zählen, in denen ich als “zu viel” abgetan/betitelt wurde. Meine Erinnerungen ans “zu viel Sein” gehen weit zurück – und weit weg. Bis nach Savrova, in ein kleines Dörfchen in Kosova, wo ich die ersten Jahre meiner Kindheit verbracht habe. Schon damals sagte man mir, ich sei zu laut, zu rebellisch, zu frech und ungehorsam.

Ich zog alleine um die Häuser, klaute den schönen Schmuck und das Spielzeug meiner Nachbar*innen und brachte meine Beute nach Hause. Zutiefst beschämt nahm meine Mutter mich an die Hand und wir brachten meine Errungenschaften zurück. Meine Lieblingsbeschäftigung war es damals schon, mich mindestens drei Mal am Tag umzuziehen und in meine hübschesten Kleider zu schlüpfen. Mein Fave? Das schwarz-weiss gepunktete Kleid. Ich posierte vor dem Spiegel und sang vor mich hin. Etwas, das ich auch heute noch gerne tue.

Als wir in die Schweiz auswanderten, zog ich mich zurück. Sprache, Umfeld und Menschen waren mir fremd. Ich begann mich anzupassen, um auf keinen Fall aufzufallen. Als Älteste von vier Kindern mit Eltern mit Migrationshintergrund, welche mir immer wieder eintrichterten, dass anständige Mädchen keinen Alkohol trinken, sich nicht mit Jungs herumtreiben und Sex vor der Ehe ein absolutes T-A-B-U ist, lebte ich lange mit einer gespaltenen Persönlichkeit. Unterwegs mit meinen Freund*innen, die – so schien es zumindest – alles durften, fragte ich mich immer wieder: Wieso darf ich nicht einfach das tun, worauf ich Lust habe? Warum darf ich nicht das machen, was ich will? Nun ja, es erstaunt nicht – als ich auf den Geschmack von ausschweifenden Parties, ungezügelten Alkoholexzessen und den ersten romantischen Begegnungen kam, war Rebellion Programm! Ich begann auszubrechen – auszubrechen aus alten Strukturen, auszubrechen aus dem Mädchen, welches ich – ungewollt – geworden war.

Manchmal fragte ich mich wie es wohl wäre, wenn ich ein Junge wäre, manchmal wünschte ich mir das sogar. Denn wäre ich ein Junge gewesen, wäre es okay gewesen, abends mit Freund*innen im Park zu chillen, Freund*innen anderen Geschlechts zu haben oder an Jugi Parties zu gehen. Doch für meine Eltern gehörten sich solche Dinge nicht für ein Mädchen. Eine anständige junge Frau – vor allem aus meinem Kulturkreis – war (und ist) eine Frau, die weder Tattoos hat noch abends mit den Kolleg*innen (und schon gar nicht mit Jungs) um die Häuser zieht.

Den Satz “Du bist zu viel” höre ich auch heute noch in den unterschiedlichsten Situationen. Mittlerweile habe ich mein “zu viel Sein” angenommen und verurteile mich selbst nicht mehr dafür. Es ist okay, wenn ich mal all over the place bin, ein Glas über meinen Durst trinke und am nächsten Tag das Bedürfnis habe, mich zurückzuziehen. Die grösste Herausforderung des Lebens besteht für mich darin, mich selbst zu sein, in einer Welt, die ständig versucht, mich zu verändern, mich wie alle anderen zu machen. Ich habe gelernt, dass diese Facette zu mir gehört, dass sie mich ausmacht – dass sie mich zu der Frau macht, die ich bin – und auch sein möchte. Und wenn ich ehrlich bin, liebe ich es heute, so zu sein, wie ich bin – gesellschaftliches “zu viel” hin oder her.

Genauso wünsche ich mir, dass weniger geurteilt wird, weniger schubladisiert – weniger “du bist zu viel”-t. Lasst uns wieder stolz auf uns sein – lasst uns wieder uns selbst sein – ganz furchtlos, ohne Kompromisse.