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Unterwasserflimmern

Rahel Fenini

Sonntagmittag. Sanfte Sonnenstrahlen dringen durch die Jalousien in mein Schlafzimmer. Vogelgezwitscher; Kinderlachen und fröhliche Stimmen in der Ferne. Während draussen das Leben in gewohnter Manier vor sich geht, liege ich regungslos im Bett. Kopfweh, Kater. Hat sich die Nacht vorher noch frei, ungezähmt und endlos angefühlt, spüre ich wenige Stunden später nichts mehr davon. Die wunderbaren Gefühle, die man am liebsten einfangen, einpacken und aufbewahren möchte, sind verpufft; als hätten sie Platz gemacht für das grosse Nichts. Die grosse Leere – die grossen Fragezeichen. Wer bin ich? Was mach’ ich? Wen und was mag ich? Wer mag mich? Wo geht’s hin? Mit wem? Mit ihm? Ich versuche die Gedanken abzuschütteln, versuche den Stein, der sich auf mein Herz gelegt hat, wegzurollen. Keine Chance. Er sitzt schwer, hat sich’s bequem gemacht. Beschäftige dich mit mir_dir – eher wirst du mich nicht los. Ich drehe mich auf die Seite – versuche erneut einzuschlafen. Schlafen, um den Fragen im Kopf zu entkommen. Versuche fernzusehen. Fernsehen, um die Stimmen im Kopf zu übertönen; eintauchen in Konversationen und Emotionen, die nicht die meinigen sind. Wenn es einen Mensch gibt, der zu viel denkt, zu viel fühlt und spürt; beinahe zu viel, beinahe so viel, dass mensch nicht mehr weiss, wer mensch ist – dann bin ich heute dieser Mensch.

Während ich die Zeilen von Katharina Schallers Erstlingswerk Unterwasserflimmern lese, eintauche in die Geschichte und Welt ihrer Protagonistin, denke ich an diesen Sonntag zurück. An die Gefühle, die Gedanken – und den unausgesprochenen Druck, einen Plan haben zu müssen. Zu wissen, wer ich bin, wer ich sein möchte und wohin’s gehen soll. Ähnlich geht es ihr – sie, die keinen Namen hat. Vielleicht gerade eben, weil sie für viele steht – oder stehen sollte. Eine Frau zwischen zwei Beziehungen, die aufbricht, weil es sich richtig anfühlt, weil sie will – und muss.

Ich erzähle ihr, wer ich zuhause bin und wer hier. Ich erzähle ihr von meiner Zerrissenheit. Dass ich Emil und Leo vermisse und mich trotzdem besser fühle. Dass ich mich fühle, als wäre etwas zerplatzt, was mich zurückgehalten hat. Dass ich nicht weiss, ob ich das will. Solche Beziehungen. Ein Kind. Das alles. Dass ich etwas anderes sehen will. Dass ich Nähe will. Körper. Dass ich Nächte durchreden möchte. Dass ich niemandem wehtun will. Und es trotzdem getan habe.

Mit ihr machen wir uns auf eine Reise – ohne Ziel, ohne Plan. Wir begegnen Menschen, knüpfen Freundschaften, lieben, fühlen und spüren. Ganz ungezwungen, ganz frei. Sie hat Sex mit Menschen, die sie gerade erst kennengelernt hat – ohne schlechtes Gewissen, ohne “Was mache ich hier gerade?”. Einfach weil es sich gut anfühlt, weil es das ist, was sie will; weil die Nähe eines anderen Menschen, das Aufeinanderprallen von zwei Körpern, das Einswerden manchmal so viel mehr ist als einfach nur Sex. Während grosse Fragen darauf warten, beantwortet zu werden; Entscheidungen darauf warten, getroffen zu werden, bewegt sich die Protagonistin mit einer gewissen Selbstverständlichkeit immer weiter; ohne wissen zu müssen, wohin’s geht.

Wir halten an, um zu tanken. Eine lange Strasse, die nur das Geradeaus kennt, und Felder, die sich hinter der Tankstelle ausbreiten. Ein Blatt Papier dreht sich mit dem Wind, er hebt es auf und trägt es nach oben, bevor er es wieder nach unten schweben lässt. Das sind wir, denke ich. Luis und ich. Wir sind ein Blatt Papier, das Leben trägt uns herum, und jetzt gerade, jetzt wirbeln wir.

Diese Leichtigkeit – dieses “sich treiben lassen” ohne etwas zu müssen – fühlt sich gut an. Ich brauche diese Leichtigkeit, ich will diese Leichtigkeit. Ich will mich nicht ständig fragen müssen, ob das was ich gerade tue, was ich gerade empfinde in Ordnung ist. Ob es richtig ist, ob es mich näher an dieses Ziel bringt, von dem alle sprechen. Ich möchte sein können; fühlen und spüren können – und mich dabei immer ein wenig besser kennenlernen. Ich möchte tief tauchen, Unerwartetes entdecken und mich von der Kälte des Wassers überraschen lassen. Ich möchte auftauchen, nach Luft schnappen und mich lebendig fühlen – so wie es Katharina Schallers Protagonistin tut. Ja, darauf hab’ ich Lust.

Katharina Schallers “Unterwasserflimmern” ist beim Haymond Verlag erschienen; kaufen könnt ihr es bei Paranoia City in Zürich. Viel Spass beim Lesen!

Photocredit: Haymond