CultureQueens' IssueQueer Talk

Queer Talk, Vol. 10: “Ich will mich nicht in eine Rolle drücken lassen”

Rico Schüpbach

Meine #heroine ist Chris Heer. Sie ist politische Aktivistin, Juristin und Feministin. Wir kennen uns vom Voguing Kurs in Zürich. Ich habe mich mit Chris über Ableismus, Sexismus und Mehrfachdiskriminierung unterhalten. Die Zürcher Aktivistin setzt sich seit Jahren für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein.

Chris in Zürich und Rico in Buenos Aires

Chris, vor einem Voguing Kurs hast du von Mehrfachdiskriminierung erzählt, die dir wegen deiner Behinderung und aufgrund der Tatsache, dass du als Frau gelesen wirst – Chris ist genderqueer, benutzt im Deutschen aber “sie” als Pronomen – widerfährt.
Ja, es ist auch gar nicht so einfach darüber zu sprechen. Meine Geschlechtsidentität stand lange nicht im Vordergrund, weil halt meine Behinderung viel mehr Platz eingenommen hat in meinem Leben. In der Schule hatte ich nicht das Gefühl, dass ich als Mädchen weniger gefördert wurde. Wobei einmal hat mir eine Lehrerin gesagt – ich war sieben – sie würde es überhaupt nicht sehen, dass ich mal studieren werde.

Krass.
Ich finde, auf solche Aussagen sollte man halt einfach verzichten. Ein siebenjähriges Kind kann sich noch so weit entwickeln, da ist sowas völlig deplatziert. Diskriminierung aufgrund des Geschlechts habe ich erst später gespürt. Als Juristin war ich bis vor Kurzem in einem sehr männlich dominierten Umfeld tätig. Einige im Kader waren da wirklich sehr konservativ unterwegs und ein Vorgesetzter hat auch sehr offen gezeigt, dass er nicht viel von Frauen hält.

Wie hat er das ausgedrückt?
Zum Beispiel haben sie einmal eine Person für die Romandie gesucht. Der Vorgesetzte hat der Personalabteilung gesagt, sie sollen nach jemandem Ausschau halten, der den Qualifikationen der beiden Männer im Team entspricht. Wir waren zu viert im Team. Meine Kollegin und mich hat er einfach ignoriert. Auch gendergerechte Sprache war so ein Reizthema: Mein Chef wollte nicht, dass ich den Genderstern benutze, er beharrte aufs generische Maskulinum. Immerhin konnten wir dann doch mal einen Leitfaden für inklusive Sprache erstellen, der zwar nicht viel Beachtung fand, aber es gibt ihn immerhin. Schon mal gut, weil man sich in Zukunft darauf beziehen kann. Von der Inklusion von non-binären oder genderqueeren Menschen war noch nicht mal die Rede.

Chris Crippin’ The Biquing

Du bist selber auch genderqueer?
Ich will mich nicht in eine Rolle drücken lassen. Ich spiele mit den binären Geschlechterrollen so wie es mir halt auch passt. Manchmal geschminkt mit falschen Wimpern, manchmal ohne. So wie ich grad Lust habe.

Es gibt schon immer wieder Leute,
die sagen,
solche
Gleichberechtigungsanliegen seien nicht wichtig.
Es ist halt auch ein Prozess, ich fand früher auch, gendergerechte Sprache sei jetzt für mich persönlich nicht so wichtig. Bis ich dann realisierte, dass es wichtig ist. Sprache formt unser Denken. Wir sind geprägt von internalisierten Ableismen, Rassismen und Sexismen. Man wird gebrainwashed und einem wird gesagt, es sei doch alles gut. Das Frauenstimmrecht ist jetzt da und alles ist gut. Oder bei mir ist das auch noch so mit der Behinderung, ich habe einen internalisierten Ableismus in mir. Ich spreche hier extra im Präsens. Den habe ich noch nicht überwunden, aber ich habe ihn zumindest mal wahrgenommen. Ich arbeite daran.

Wie machst du das?
Lange konnte ich den Super Crip durchziehen. Durch meine Behinderung wollte ich möglichst gut in allem sein. Was ich auch war, ich war erfolgreiche Paralympics-Schwimmerin, habe Jura studiert und hatte ausserdem das Gefühl, ich müsse schlank sein und einem heteronormativen Schönheitsstandard entsprechen. Ich bin knapp an einer Essstörung vorbeigeschlittert. Irgendwann habe ich realisiert, dass ich netter zu mir selbst sein muss. Der Druck auf Frauen oder auf feminin gelesene Menschen ist enorm gross.

Chris Heer

Viele dieser diskriminierenden Mechanismen werden auch in marginalisierten Communities reproduziert.
Ja, auch in der Behinderten-Community. Wie in der LGBTIQ-Community nehmen auch dort Männer viel Raum ein. Teilweise wollen diese Männer halt beweisen, dass sie genauso Mann sind wie Männer an der Macht ohne Behinderung.

Wie bei den Gays.
Ja, aber wenn ich mit jüngeren Aktivist*innen spreche, beispielsweise mit Menschen von der Milchjugend oder den jungen Grünen, merke ich, dass sie bereits anders denken. Sie bemühen sich inklusiv zu sein. Das ist wichtig und stimmt mich zuversichtlich.

Was wünscht du dir für die Zukunft?
Der erste Schritt ist, was wir jetzt machen: Darüber sprechen und Diskriminierung sichtbar machen. Jeder Mensch möchte möglichst grosse Autonomie. Und die ist heutzutage halt insbesondere für behinderte Menschen nicht gegeben. “Selber” war wahrscheinlich eines meiner ersten Wörter als Kind. Je weniger Barrieren es gibt, beispielsweise im öffentlichen Verkehr, bei der Arbeit, etc. desto besser das Leben.

Mehr von Chris findet ihr auf dem Insta-Account Chris_Cripping!

Illustration: Patricia Wyler for fempop