“Wer einen Geschlechterkampf inszeniert à la Männer für Männer und Frauen für Frauen, hat nicht begriffen, worum es geht” – Unsere #heroine Anja Derungs
Rahel Fenini
Anja Derungs setzt sich seit Jahren dafür ein, dass die tatsächliche Gleichstellung aller Geschlechter endlich Realität wird. Damit bewegt sie die Gesellschaft – und mich. Für unsere Jubiläums-Ausgabe QUEENS durfte ich mit Anja – die sonst meine Arbeitskollegin ist – für einmal anders ins Gespräch treten und dabei mehr über sie, ihre Ansichten und ihre Arbeit erfahren.
Für unsere Leser*innen, die dich nicht kennen: Wer bist du, Anja, und was tust du?
Ich bin seit 2012 Leiterin der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich und lebe mit meinen zwei Kindern und meinem Partner in der Stadt Zürich. Bei der Stellenbewerbung 2012 war ich hochschwanger mit meiner ersten Tochter. Das Assessment für die Stelle fand dann kurz nach der Geburt statt. Mein Partner spazierte derweil mit der Tochter ums Stadthaus. Von 2018 bis Ende 2020 war ich Präsidentin der Schweizerischen Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten. Ich bin anerkannte Mediatorin und habe einen Master of Advanced Studies in Ausbildungsmanagement. Ursprünglich bin ich eidgenössisch diplomierte Übersetzerin. Während Jahren führte ich zudem in Teilzeit als Operatrice Filme in diversen Kinos der Stadt Zürich vor.
Beeindruckend! Wie ist es dazu gekommen, dass du dich beruflich für die Gleichstellung – und somit feministische Anliegen – engagierst?
Bereits bei meiner vorangehenden Stelle bei Caritas Schweiz war ich Gleichstellungsbeauftragte des Hilfswerks. Gleichstellung und Diskriminierungsschutz sind für mich seit vielen Jahren eine Herzensangelegenheit. So auch bei der Bildungsarbeit bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, wo ich vor meiner Anstellung bei Caritas Schweiz gearbeitet habe. Und meine Geschichtslehrerin im Gymnasium war Elisabeth Joris. Das hat mich sicherlich geprägt.
Du leitest seit 2012 die Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich. Was hat sich in den letzten neun Jahren getan; auf welche positiven Entwicklungen schaust du zurück? Auf welche Errungenschaftbist du besonders stolz?
Stolz bin ich darauf, dass wir ein umfassendes Weiterbildungs- und Informationsangebot zu sexueller und sexistischer Belästigung am Arbeitsplatz für diverse Zielgruppen haben. Gerade im Zuge von #metoo und der wachsenden Nachfrage nach Information, Weiterbildung und Prävention ist das ganz wichtig. Mit www.belaestigt.ch gibt es zugleich dank der Fachstelle ein niederschwelliges Erstberatungsangebot für Betroffene.
Auch im Bereich der Lohngleichheit konnten wir einiges erreichen. So führen wir seit einigen Jahren Stichproben im Beschaffungs- und Leistungsvereinbarungswesen durch bei Unternehmen, die einen Zuschlag der Stadt Zürich erhalten haben.
Mit dem Präventionsprogramm Herzsprung konnte die Fachstelle eine Pionierrolle einnehmen im Thema “Gewalt in jugendlichen Paarbeziehungen”. Für Schulen haben wir zugleich das Lehrmittel “be yourself” entwickelt.
Auch der wachsende Arbeitsmarkt Privathaushalt beschäftigt uns. Neben der Informationsplattform www.careinfo.ch haben wir vor einigen Jahren einen online Ratgeber zu Nannies herausgegeben. Das ist derzeit die meist besuchte Seite auf unserer Website, neben den Lohnrechnern und häufig gestellten Fragen an die Fachstelle, wo wir Antworten zu Fragen aufführen, die immer wieder an uns gelangen, so zum Beispiel zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Gerade in den letzten Jahren ist auch die Nachfrage nach Weiterbildungen zu trans am Arbeitsplatz und zu Beratung und Expertise zu trans Kindern in der Schule gestiegen. Dazu haben wir bei Prof. Dr. Andrea Büchler eine juristische Expertise in Auftrag gegeben – zugeschnitten auf das Einzugsgebiet der Stadt Zürich. Die Expertise geht darauf ein, wie mit den verschiedenen Bedürfnissen, Ansprüchen und Rechten von Schüler*innen im Schulalltag umgegangen werden kann.
Auch die Partizipation und Repräsentation von Frauen, beispielsweise in Führungspositionen, bleibt ein wichtiges Handlungsfeld. Die Stadt Zürich kennt eine sogenannte 35-Prozent-Zielvorgabe fürs untervertretene Geschlecht im Kader. Die Zahlen gehen in die richtige Richtung und das ist positiv. Aber noch sind wir nicht in allen Departementen am Ziel.
Es heisst, weiterhin und konsequent dran zu bleiben.
Wie steht es heute – 2021 – um die Gleichstellung in der Stadt Zürich? Wo siehst du heute die dringendsten Brennpunkte – auch schweizweit?
Gleichstellungsthemen sind Alltagsthemen. Das hat nicht zuletzt die Corona-Pandemie deutlich vor Augen geführt. So kann es in ausserordentlichen Zeiten schnell zu einem Backlash kommen. Eine kürzlich veröffentlichte KOF-Studie hat gezeigt: Die Corona-Pandemie zementiert die Ungleichheiten in der Schweiz. Und die Krise trifft die Frauen härter. So auch bei der sogenannten Sorge-Arbeit, auch Care-Arbeit genannt. Corona hat gezeigt, was “systemrelevant” heisst. Es gilt, die Pandemie als Chance für einen Lernprozess zu nutzen. Und Verbesserungen rasch in Angriff zu nehmen. Denn: Care-Arbeit ist systemrelevant.
Mit dem Gleichstellungsplan werden für jeweils vier Jahre Schwerpunkte und Ziele gesetzt und Aktivitäten festgelegt, die die Stadt Zürich für die Förderung und Umsetzung der Gleichstellung aller Geschlechter unternimmt. Im aktuellen Gleichstellungsplan liegt der Fokus unter anderem auf der Verhinderung von sexistischer und sexueller Belästigung im öffentlichen Raum. Wo besteht hier in der Stadt Zürich nach wie vor Handlungsbedarf? Und welche Massnahmen sind geplant?
Viele Stadtzürcherinnen und Stadtzürcher erleben sexuelle und sexistische Belästigungen. Besonders betroffen sind junge Frauen. Dies hat unter anderem die letzte Bevölkerungsbefragung der Stadt Zürich gezeigt.
Bei dieser Befragung gaben 33 Prozent der Zürcherinnen zwischen 18 und 29 Jahren an, in den vergangenen 12 Monaten mindestens einmal ausserhalb des Zuhauses belästigt worden zu sein, mehr als die Hälfte davon mehrfach – vor allem auf der Strasse. Als zweithäufigste “Tatorte” folgen Bars, Clubs und Restaurants, danach Tram und Bus. Auch die Männer derselben Altersgruppe fühlen sich nicht immer sicher: 11 Prozent gaben an, im vergangenen Jahr auf der Strasse belästigt worden zu.
Auch Schwule, Bisexuelle und trans Menschen sind immer wieder Zielscheibe von Beleidigungen und Übergriffen. Damit werden einzelne Personengruppen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und fühlen sich weniger sicher.
Solche Belästigungen, aber auch Vergewaltigungen, werden nur selten zur Anzeige gebracht.
Es gibt einen Bedarf nach niederschwelligen Meldemöglichkeiten jenseits von Polizei und Opferberatungsstellen. Hier setzt die Kampagne “Zürich schaut hin” an.
Mit der Lancierung der Kampagne im Mai 2021 geht deshalb ein neues Meldetool online. Auf dem Meldetool können Belästigungen und Übergriffe sichtbar gemacht und geteilt werden. Zudem werden Informationen über rechtliche Möglichkeiten und Angaben zu Hilfsangeboten zur Verfügung gestellt. Auch Sensibilisierung, Schulung, Förderung von Zivilcourage und Selbstbehauptung sind Bestandteile des Projekts “Zürich schaut hin: Gemeinsam gegen Sexismus, Homo- und Transfeindlichkeit”. An der Entwicklung dieser Kampagne und dem Meldetool war übrigens auch die Zivilgesellschaft mitbeteiligt. Und das ist bei diesem Thema besonders wichtig.
2013 wurde der Auftrag der Fachstelle erweitert. Seither ist sie auch für die Gleichstellung von Menschen aller sexueller Orientierungen und Geschlechtsidentitäten zuständig. Was hat dieser Entscheid für dich bedeutet? Und wie hat sich eure Arbeit seither gewandelt?
In einer grossen Stadt, wie es die Stadt Zürich ist, zeichnen sich gesellschaftliche Veränderungen, Trends auf dem Arbeitsmarkt und soziale Verschiebungen schneller und akzentuierter ab als auf dem Land. Die Bevölkerung ist ausgesprochen heterogen, traditionelle und moderne Lebensmuster existieren nebeneinander.
Die Stadt Zürich hat zu einem sehr frühen Zeitpunkt in die Gleichstellung investiert. Bereits 1987 wurde eine Gleichstellungsbeauftragte im Personalamt angestellt und 1990 mittels einer Volksabstimmung ein Gleichstellungsbüro für die Bevölkerung eingesetzt. Die Aufgaben beider Stellen wurden 2005 in der Fachstelle für Gleichstellung zusammengeführt. Von Zürich sind mit Projekten oder Kampagnen immer wieder Impulse für andere Verwaltungen, Gemeinden oder Kantone ausgegangen.
Zürich hat somit eine lange Tradition, für den sozialen Zusammenhalt, gegen Diskriminierungen und für die Förderung der Chancengleichheit als Pionierin vorauszugehen.
Von dem her ist die Auftragserweiterung von 2013 konsequent und wichtig. Denn: Vor der Gleichstellungsarbeit machen auch berechtigte gesellschaftliche Forderungen und Entwicklungen nicht halt – und das ist gut so! Die Welt in ein Mann-Frau-Schema zu zwängen, greift heute definitiv zu kurz. Gesellschaftliche, demografische oder wirtschaftliche Entwicklungen haben direkten Einfluss auf unsere Arbeit. Das macht sie auch so spannend!
Am 7. Februar 2021 feierten wir das 50-Jahr-Jubiläum des Frauenstimm- und Wahlrechts. Was bedeutet dieser historische Moment für dich?
Es war ein Unrecht, dass den Frauen das Stimm- und Wahlrecht in der Schweiz so lange verweigert wurde. Dieses Unrecht muss sichtbar gemacht und anerkannt werden. Deshalb begrüsse ich es, dass in diesem Jahr so viele Ausstellungen und Aktionen dazu stattfinden.
Die Verweigerung des Stimm- und Wahlrechts war eine krasse Form der Diskriminierung.
Es ist somit ein passender Moment, innezuhalten und den Kämpferinnen fürs Frauenstimmrecht, die enorm viel geleistet haben und viel Mut aufgebracht haben, zu danken. Sie setzten sich Anfeindungen und Beschimpfungen aus für ihren Kampf um Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Mitsprache, der nicht mit dem Erlangen des Frauenstimm- und Wahlrechts vor 50 Jahren endete oder endet, sondern weitergeht.
Trotz des Erfolges von 1971 gibt es heute immer noch Menschen, die kein Recht auf politische Partizipation haben. Ich denke dabei an Frauen und Männer ohne Schweizerpass, an junge Personen, die nach wie vor nicht abstimmen dürfen. Wie können wir diese Gruppen dennoch teilhaben lassen? Wie gelingt es, ihre Stimmen zu hören – und diese in den Diskurs und wichtige Entscheidungen einfliessen zu lassen?
Macht und Partizipation in unser Demokratie sind auch heute noch ungleich verteilt. Junge Menschen oder ältere Frauen beteiligen sich weniger an Wahlen und Abstimmungen und Ausländer*innen ist das Stimm- und Wahlrecht ganz verwehrt. In der Stadt Zürich besitzt knapp ein Drittel der Bevölkerung kein Schweizer Bürgerrecht. Bei der grössten Altersgruppe in der Stadt Zürich, den 30- bis 39-Jährigen, besitzen sogar 47 Prozent keinen Schweizer Pass. Damit sind fast 140 000 Menschen in der Stadt Zürich von der politischen Mitsprache ausgeschlossen. Sie dürfen beim ganzen Feiern nicht vergessen gehen. Auch hier muss es vorwärts gehen.
Obwohl sich in den vergangenen Jahrzehnten einiges getan hat in puncto Gleichstellung, haben wir noch immer einen langen Weg vor uns. Wie sieht für dich eine gleichgestellte Zukunft aus?
Es braucht einen Wandel in den Rollenbildern unserer Gesellschaft – alles muss für alle denkbar und möglich sein. Wir müssen überholte Rollenvorstellungen loslassen.
Geschlechterrollen sind wie ein goldener Käfig. Sie schaffen zwar Sicherheit, aber sie hindern uns daran, auszufliegen, Visionen zu haben und diese zu verwirklichen, unsere Grenzen zu sprengen.
Es gilt, den Mut und die Lust der Kämpferinnen fürs Frauenstimm- und Wahlrecht sowie aus dem Frauen*streik vom vorletzten Jahr mitzunehmen sowie die Vorstellungen einer demokratischen und gleichberechtigteren Gesellschaft. Damit die tatsächliche Gleichstellung aller Geschlechter endlich Realität wird. Denn letztendlich geht es dabei auch um Verteilungsgerechtigkeit und soziale Sicherheit für alle.
Was denkst du: Was gibt es auf dem Weg dahin zu gewinnen, was gibt es zu verlieren?
Wenn wir Gleichstellung erreichen wollen – und das muss unser aller Ziel sein, dann müssen Männer wohl oder übel einen Teil ihrer Privilegien abgeben. Und wenn Gleichstellung erreicht ist, werden sie davon genauso profitieren wie Frauen. Auch sie werden aus dem Käfig ausbrechen können.
Veränderungen lösen Widerstand aus. Es gab immer Menschen – Frauen und Männer – die mit dem heutigen gesellschaftlichen Zustand zufrieden sind. Sie fühlen sich als Frau nicht diskriminiert oder als Mann nicht privilegiert. Das kann im Einzelfall ja auch stimmen – aber strukturell, also im Grossen und Ganzen, stimmt es ganz einfach nicht. Es geht beispielsweise nicht bloss um das Verhalten einzelner Frauen im Sinne von: Frauen müssen sich mehr zutrauen und mehr fordern. Es geht darum, Privilegien und strukturelle Machtverhältnisse überhaupt erst sichtbar zu machen. Und zu benennen. Am Ende kommt mehr Freiheit für alle heraus.
Mit den vorherrschenden Bedingungen haben heute auch Männer zu kämpfen, und zwischen den Bedürfnissen von Männern und den Zielen der Gleichstellung besteht aus meiner Sicht kein Interessenkonflikt. Die Männer sind nicht die Verlierer der Gleichberechtigung – auch wenn das viele so sehen. Männer brauchen Gleichstellung und Gleichstellung braucht Männer.
Wer einen Geschlechterkampf inszeniert à la “Männer für Männer” und “Frauen für Frauen”, hat nicht begriffen, worum es geht: Um eine Begegnung auf Augenhöhe, bei der jede*r unabhängig vom Geschlecht, der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität zu ihren*seinen Rechten kommen soll. So ist denn auch das Gleichstellungsgesetz bei Diskriminierungen aufgrund der familiären Situation keinesfalls nur auf Frauen anwendbar – nur leider kennen hier die wenigsten ihre Rechte. Es geht also um Gerechtigkeit (nicht nur für Einzelne), um eine Gesellschaft ohne Benachteiligungen (nicht nur auf dem Papier). Und dazu braucht es Frauen bis Männer.
Der Kampf für Gleichstellung kann ermüdend, ernüchternd und nicht selten anstrengend sein. Woher nimmst du die Kraft, den Mut und Durchhaltewillen nicht zu verlieren und dich Tag für Tag für diese Anliegen einzusetzen?
Persönliche Anfeindungen kommen eigentlich eher selten vor. Das ist das, was anstrengend und deprimierend ist. Was immer überwiegt, und das ist auch das, was mich bewegt und antreibt und mir Lust und Kraft gibt, ist der spannende Auftrag der Fachstelle. Wir setzen uns tagtäglich ein für die rechtliche und gelebte Gleichstellung von Frauen und Männern, von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und von inter und trans Menschen. Wir informieren, beraten, vermitteln in Konflikten, bieten Weiterbildungen an, machen Projekte und führen eine Bibliothek zu Gleichstellungsthemen mit tollen BiblioTalks. Der letzte BiblioTalk war beispielsweise zu “Sprache und Sein” mit Kübra Gümüşay. Ganz wichtig ist dabei mein tolles Team von Mitarbeitenden – auf sie ist Verlass und die Zusammenarbeit macht enorm viel Freude.
Auch ist es mir wichtig, nahe an den Lebensrealitäten der Zürcher Bevölkerung zu sein bei unserer Arbeit. Mit unserem Auftrag ist das möglich. Wir stehen täglich in Kontakt mit vielen ganz unterschiedlichen Menschen. Und die Beratungen und Vermittlungen von Einzelpersonen geben uns auch immer Hinweise auf strukturelle Probleme.
Unsere fempop-Ausgabe zum Jubiläumsjahr 2021 setzt mutige, starke und wegbereitende Frauen in den Fokus. Welche Frauen inspirieren dich?
Ach, da gibt es so viele. Ich kann sie gar nicht alle aufzählen. Und oft sind es nicht die, die im Rampenlicht stehen!