Aline Wüst verbrachte viele Abende im Puff und hörte den dort arbeitenden Prostituierten zu. Die Geschichten schrieb sie auf, büschelte sie und veröffentlichte sie im Buch “Piff Paff Puff. Prostitution in der Schweiz”, erschienen im Echtzeit Verlag. Dabei verfolgte sie einen rohen, ungeschönten Schreibstil mit dem Ziel: Den Frauen soll zugehört werden. Ihre Erzählungen sind keine einfache Kost und die Schicksale der Frauen berühren. Ich habe sie gelesen und habe mit Aline Wüst über ihre Arbeit am Buch, über Prostitution in der Schweiz und über die damit unmittelbar verbundene Scham gesprochen.
Prostitution ist ein hoch komplexes Thema. Wie bist du vorgegangen?
Ich war länger auf Reisen und bin immer wieder mit Prostitution in Kontakt gekommen. Ich wollte wissen, wer diese Frauen sind. Ich habe meist einen simplen Ansatz an Themen heranzugehen: Ich fange einfach an mit den Leuten zu reden. Ich wollte von den Frauen wissen, wer sie sind, wie sie leben, wovon sie träumen. Das war der Hauptfokus. Natürlich habe ich auch mit Expert*innen gesprochen und viel gelesen zum Thema.
Im Buch hast du beschrieben, dass viel Zeit vergangen ist, bis der Smalltalk verging und du wirklich an die Frauen herangekommen bist.
Genau, das war die grösste Aufgabe. Ich habe es im Vorfeld unterschätzt. Am Anfang war ich auch etwas unsicher, ob ich überhaupt jemals in einem guten Rahmen würde mit den Frauen sprechen können. Jetzt, nach der Veröffentlichung des Buches, kommen Frauen auf mich zu, um mit mir über ihre Arbeit in der Prostitution zu reden.
Es freut mich sehr, dass das Buch eine Art Türöffner für andere Frauen in der Prostitution ist, um ihre eigene Geschichte zu erzählen.
Du bist also immer noch mit dem Thema beschäftigt, auch jetzt, wo das Buch fertig ist?Mein Leben dreht sich noch immer zu einem Teil um das Thema Prostitution. Auch wenn ich davon aktuell nichts nach aussen gebe. Es ist noch unklar, was ich damit mache.
Die meisten Schicksale, die du im Buch beschreibst, sind bedrückend. Wie bist du persönlich damit umgegangen, diese so nah zu erleben?
(überlegt) Wenn ich vor Ort war, habe ich zugehört, aufgeschrieben und einfach funktioniert. Aber gerade am Anfang, wenn man noch nichts über das Thema weiss und dann in die Lebensrealitäten der Frauen eintaucht, kann das einen schon überfordern.
Ich habe das Puff wie eine Parallelwelt erlebt. Eine Welt, die da ist, die aber nichts mit meiner Welt zu tun hat.
Das war schon sehr schwierig. Ich war immer wieder überfordert mit all dem Leid und der Ungerechtigkeit konfrontiert zu sein. Ich musste Strategien finden, mein Leben von diesen Eindrücken zu trennen. Die Strategien haben natürlich nicht immer funktioniert. Und sowieso kann ich nicht verhindern, dass sich meine Arbeit auch mit meinem privaten Leben vermischt in solchen Phasen. Das kann bereichernd sein, beispielsweise bei Freundschaften, die entstanden sind. In anderen Bereichen ist es hingegen schwierig. Aber das ist wohl einfach so. Auch haben die Frauen sehr gute Menschenkenntnisse. Die lesen einem enorm gut, denn sie lernen das durch ihre Tätigkeit. Ich musste und wollte immer ein authentisches Gegenüber sein.
All die traurigen Schicksale, der mit der Prostitution untrennbare Menschenhandel, die Objektivierung von Frauenkörpern, die physische und psychische Gewalt… Seit ich das Buch gelesen habe, kann ich persönlich die Legalität der Prostitution nicht mehr gutheissen. Wie stehst du zu dem Thema? Und wie stehst du zum nordischen Modell, was den Kauf von Sex illegal macht?
Die Erkenntnisse, die ich im Buch zusammengetragen habe, stellen wohl die Frage: Was nun? Die Meinungen gehen dabei weit auseinander. Es gibt Sichtweisen, die mit meinen Beschreibungen kollidieren. Es gibt Menschen, die sagen, dass die Realität ganz anders ausschaut.
Die Diskussion über Prostitution läuft aber grundsätzlich oft auf diesen zwei Schienen: Legal vs. Sexkauf-Verbot. Das ist schade, weil wir dann gar nicht offen reden. Mein Wunsch ist, dass offen über Prostitution geredet wird. Meine Hoffnung ist, dass wir so die beste Lösung für die Frauen finden, die sich in der Schweiz prostituieren.
Doch leider gibt es viele, die eine solche Diskussion verhindern wollen. Die nicht einmal den Mut haben den Status quo in Gedanken zu hinterfragen.
Geht es nicht auch darum, dass wir zuerst einfach mal richtig hinschauen sollten? Mir ging es so, dass ich vor dem Lesen des Buches gar nicht gewusst habe, was es eigentlich bedeutet, eine Prostituierte in der Schweiz zu sein.
Ja, genau. Mich berührt es bei jeder Person, die sich Zeit nimmt, dieses Buch zu lesen. Weil es Mut braucht. Es ist brutal, was die Frauen erzählen. Mir ist einfach wichtig, dass man ihnen zuhört.
Immer wenn ich mich in der Vergangenheit mit dem Diskurs über Prostitution beschäftigt habe, ist mir aufgefallen, dass Freier kaum ein Gesicht haben in diesen Gesprächen. Der Fokus liegt immer auf den Prostituierten. Und dass, obwohl sie nur die Hälfte der involvierten Personen ausmachen. In deinem Buch hast du es geschafft mit ein paar Freiern zu reden. War es schwierig an sie heranzukommen?
Es gelang mir schneller mit den Freiern in ein tieferes Gespräch zu kommen als mit den Frauen, die sich prostituieren. Weil wenn die Freier dann Mal reden, tun sie es eigentlich ganz gerne.
Wie war es für dich mit ihnen zu reden?
Mir gelingt es gut mich in Gesprächen in andere hineinzuversetzen. Die Beweggründe der Männer konnte ich nachvollziehen. Darum verurteile ich sie auf keinen Fall.
Bei vielen der involvierten Frauen hat es Gewalt und Vernachlässigung gegeben in der Kindheit, so aber auch bei den Freiern.
Ich denke viele Freier gewinnen am Ende auch nicht viel in der Prostitution. Was ich jedoch als schlimm empfand, war es, als stille Beobachterin im Puff zu sein. Zu sehen, wie Freier mit den Prostituierten umgegangen sind. Wie sie sie betatscht und Witze über sie gerissen haben, die die Frauen nicht verstanden haben. Dieses übergriffige Verhalten war schwierig für mich mit anzusehen.
Die mit dem übergriffigen Verhalten verbundene Objektivierung der Prostituierten kommt immer wieder hervor im Buch. Es scheint mir, als ob das einer der Hauptgründe ist, worunter die Frauen leiden.
Niemand möchte ein Objekt sein. Eine Frau drückte das so aus: “Ich bin doch eigentlich auch ein Mensch.”
In anderen Berufen arbeitet man auch mit dem Körper. Ich denke an Masseure, an Physiotherapeutinnen oder Handwerkerinnen. Diese Berufsleute werden jedoch in ihrem Berufsalltag nicht objektiviert. Sie entscheiden in ihrer Arbeit, wie sie diese ausführen möchten.
Da stimme ich dir zu. Huschke Mau, Doktorandin und ehemalige Prostituierte, sagte einmal: Bei einer Dienstleistung spielt es keine Rolle, ob du ein Mann bist oder eine Frau, ob du klein bist oder gross, solange man die Arbeit erledigen kann. Bei der Prostitution hingegen ist es anders, es spielt sehr wohl eine Rolle welches Geschlecht die betreffende Person hat und zudem auch wie sie aussieht. Hat die Frau grosse Brüste oder kleine? Auch Rassismus kommt in der Prostitution vor. Ist sie eine Latina oder ist sie Asiatin?
Im Sexgewerbe sind also Dinge ganz normal, die wir in anderen Bereichen der Gesellschaft längst nicht mehr tolerieren.
Mir ist beim Lesen aufgefallen, dass du oft eine sehr rohe, klare und ungeschönte Sprache verwendest. Hast du damit bewusst Doppeldeutigkeit umgehen wollen?
Das Rohe war mir wirklich wichtig. Sodass nicht ich als Schreiberin in den Fokus rücke, sondern die Frauen, die erzählen. Doppeldeutigkeiten könnten in meinen niedergeschriebenen Gedanken und Erklärungen zum Vorschein treten. Deshalb habe ich diese bewusst weggelassen. So zwinge ich der lesenden Person keine Sicht auf das Thema auf. Dabei wird der Text roh und damit auch emotional anstrengender zum Lesen. Es war ein bewusster Entscheid die Leser*innen alleine zu lassen mit all den Geschichten. Jede*r darf selber nachdenken und Schlussfolgerungen ziehen.
Du bist demnach wie eine Wissenschaftlerin vorgegangen und hast möglichst genaue Daten gesammelt, deren Interpretation noch offensteht.
Genau. Ich habe alles zusammengetragen, was ich kriegen konnte und habe es ansprechend gebüschelt (lacht).
Im Diskurs über Prostitution in den Medien kommt oft die selbstbestimmte Prostituierte zu Wort. Eine Frau, die nicht aus rein finanziellen Gründen in der Prostitution ist. Beispielsweise eine Medizinstudentin, die sich neben dem Studium prostituiert, um sich etwas dazu zu verdienen. In deinem Buch kommen kaum solche Frauen vor. Warum?
Ich habe für das Buch keine Frauen gesucht, die irgendeine spezifische Meinung zum Thema haben und wollte auch keine Frauen im Buch haben, die bereits in den Medien öffentlich zum Thema geredet haben. Das Puff, in dem ich war, war ideal für meine Recherche, weil ich nicht wusste, wer da war. Ich habe mit allen geredet, die mit mir reden wollten. Es war ein guter Querschnitt, denke ich. Hätte ich nach Frauen mit einer bestimmten Sichtweise auf das Thema gesucht, hätte das was ich beschreibe ja nicht mehr der Realität entsprochen. Und es macht journalistisch keinen Sinn, etwas anderes zu tun, als zu versuchen die Realität abzubilden.
Ich wollte nicht Einzelfälle suchen, ich wollte die grosse Masse abbilden. Und da habe ich einfach keine glücklichen, selbstbestimmten Prostituierten gefunden.
Eine Deutsche, die ich traf, kam diesem Bild der selbstbestimmten Prostituierten am nächsten. Sie ist wohl nicht extrem repräsentativ, weil sie erst seit drei Wochen gearbeitet hat, aber ich habe sie bewusst ins Buch reingenommen.
Wenn dein Buch ein Querschnitt ist, dann gibt es also gar nicht so viele von jenen selbstbestimmten Prostituierten, die in den Medien so oft zu Wort kommen?
Ja, das würde ich mit grosser Sicherheit sagen. Dieser Teil ist eher klein und trotzdem haben diese Frauen ihre Berechtigung, gehört zu werden. Mir fällt aber auch auf, dass diese Frauen oft besonders laut in den Medien sind. Wohingegen die anderen Frauen, die einen grossen Teil der Prostituierten ausmachen, wenig Gehör bekommen. Das hat damit zu tun, dass es viel Effort braucht, damit diese Frauen erzählen. Ihnen fehlt das Interesse sich zu äussern, weil sie sich Tag für Tag in einem Überlebensmodus befinden. Aber ich finde es ist eine Aufgabe von Journalismus auch diese Stimmen hörbar zu machen. Oft schwingt bei sexuellen Übergriffen und bei der Gewalt, die diese Frauen immer wieder erleben, viel Scham und Angst mit. Wir kennen das von #metoo. Es hat sehr viel gebraucht, bis man sich getraut hat, über sexuelle Gewalt zu reden. Die Frauen, die laut sind und die erzählen, wie sie die Prostitution empowert, vergessen dabei wohl oft, dass sie eine Minderheit darstellen. Denn wenn man ständig hört, dass es toll ist, Prostituierte zu sein, das aber selber nicht so empfindet, wird die Hürde doch unendlich viel grösser das eigene Schweigen zu brechen.
Du würdest sagen, dass die Scham der Grund ist, warum geschwiegen wird?
Ja, aber nicht nur. Die Frauen haben neben der Scham auch Angst vor Zuhältern und vor ihren Loverboys (Anm. der Redakton: Männer, die gleichzeitig Liebespartner für die Frauen sind und sie in Prostitution zwingen und dabei mitverdienen). Ein weiterer Grund ist wie gesagt, der Überlebensmodus, in dem sich die Frauen befinden und die Hoffnungslosigkeit, dass sich eh nie was ändern wird.
Wenn man sich engagieren möchte, damit sich die Situation für die Prostituierten in der Schweiz verbessert, was kann man da machen?
Was man immer machen kann ist: Das weitererzählen, was man weiss und dieses Wissen so weitertragen. So dass die Stimmen der Frauen in die Politik gelangen und dort ehrlich darüber geredet wird. Ausstiegshilfen sind im Moment am Entstehen, da sind bereits viele Menschen involviert. Dort braucht es Immobilien, Geld und Therapieplätze. Natürlich ist es da schwierig für dich und mich gross was auszurichten. Was aber schon hilft, ist den Frauen zu glauben, was sie zu erzählen haben. Das ist das Wichtigste.
Piff, Paff, Puff – Prostitution in der Schweiz
“Come on! Ist es normal, mit fremden Menschen zu schlafen? Ich nehme Geld, ja. Aber ich gebe auch etwas von mir, von meiner Seele.”
Die Reporterin Aline Wüst sass viele Abende im Puff, fror am Strassenstrich, reiste nach Rumänien, traf Freier – und hörte zu.