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Queer Talk, Vol. 9: Ganz oder Gar Nicht

Rico Schüpbach

Holistisch meint ja eigentlich Ganzheitlichkeit, also dass man Dinge nicht einzeln betrachten soll, sondern im grossen Ganzen. So etwas einfach ausgedrückt. Ich kann dazu nur sagen: Ja, absolut, ich bin einverstanden. Insbesondere was queer-feministische Anliegen betrifft.

Eine Frauenquote für Führungspositionen zu fordern, ist richtig und wichtig, weil sich sonst einfach fast nichts bewegt oder unglaublich langsam. Der Frauenanteil in Schweizer Geschäftsleitungen stagniert bei zwei Prozent. Unglaublich! Gleichzeitig ist es nur ein Puzzleteil, zumal ein sehr kleines und für eine privilegierte Minderheit (ganzheitlich, global betrachtet, versteht sich). Was bringt es Frauen, die nach wie vor für einen Hungerlohn Billigkleider nähen, wenn bei H&M Frauen in der Geschäftsleitung sitzen. Das soll Anliegen für mehr Diversität – wie das so schön heisst – im Management und auch in der hiesigen Politik nicht schmälern.

Trotzdem, wenn man die Sache eben ganzheitlich anschaut, muss das Patriarchat global fallen und mit ihm der ausbeuterische Kapitalismus.

Auch die Ehe für alle ist zwar ein wichtiges Anliegen für die LGBTIQ-Community, nur ist auch sie lediglich ein kleines Teilchen. Wenn man die Sache etwas grösser betrachtet, fällt einem auf, dass die Ehe für alle als Konzept nur in einer heteronormativ organisierten Gesellschaft funktioniert. Sie ist die Erweiterung der patriarchalen Ehe auf gleichgeschlechtliche Paare. Sicher ein Fortschritt, aber eben einer innerhalb eines bestehenden Systems. Will das die LGBTIQ-Community? Sich einfach an den biederen, hetero Lebensentwurf assimilieren? Ich kann nur für mich sprechen, ich finde die Ehe für alle wichtig, sie sollte endlich legal sein. Gleichzeitig finde ich, wir sollten die Ehe und unser Beziehungskonstrukt generell überdenken und sie vielleicht irgendwann zu Gunsten gesünderer Beziehungsformen abschaffen. Die Ehe war ein patriarchales Kontrollinstrument.

Die Ehe für alle ist eine politische Minimalforderung.

Es kann doch nicht sein, dass die monogame Zweierbeziehung oder einfach Single-Sein die einzigen Optionen sind, die wir haben. Ausserdem ist es auch überholt zu meinen, es gäbe gleichgeschlechtliche und hetero Liebe. Was ist mit non-binären Menschen? Genderqueeren und inter Menschen? Feminismus, der Geschlecht binär denkt, ist nicht ganzheitlich. Das ist noch nicht mal die Hälfte.

Das Gleiche gilt für Diskriminierungsformen. Homophobie ist zwar ein Problem für mich als Individuum, aber sie ist eigentlich nicht mein Problem. Die Gesellschaft hat ein Problem und sie muss an sich arbeiten, kollektiv! Sie soll endlich ihren Job machen. Der Neoliberalismus hat uns so weit getrieben, dass gesellschaftliche Strukturen durch die Schein-Individualität verschleiert werden. Einfach nein! Die Dinge holistisch anzugehen, heisst für mich auch Kapitalismus-Kritik zu üben, das Patriarchat ins Wanken zu bringen.

Sich auf Teilerfolge zu konzentrieren, ist sicher wichtig. Dabei sollten wir das grosse Ganze aber nie aus den Augen verlieren. Gar nicht so einfach.

Illustration: Patricia Wyler for fempop