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Heilung durch Selbstermächtigung – doch reicht das?

Lina Kunz

Wer Heilung sucht, wird fündig in der Selbstverantwortung. Das ist das Mantra von “The Holistic Psychologist” aka Dr. Nicole LePera, die auf Instagram über drei Millionen Follower*innen zählt. Aus feministischer Sicht liegt in dieser einfachen Gleichung vielleicht Hoffnung, aber auch ein Problem.

Dr. Nicole LePera kauert in goldenem Morgenlicht am Strand von Venice Beach. Sie trägt offene lange Haare, Yogapants und ein Armband aus Bernstein. Die Ellenbogen stützt sie lässig auf ihren Beinen ab und schaut entspannt der Kamera entgegen. Es ist ein Promofoto (hier geht’s zum Post), was für ihr aktuelles Herzensprojekt wirbt: The Future Self Journal. Eine Art Fragebogen, der bei wiederholtem täglichem Gebrauch Selbstheilung verspricht. “I teach you to heal + consciously create a new version of yourself”, schreibt Dr. LePera auf ihrem Instagramprofil “The Holistic Psychologist”. Ihre Follower*innen, die sogenannten “Selfhealers”, legen unter der Anleitung von Dr. LePera bei ihrer seelischen Heilung selbst Hand an. Und das ziemlich erfolgreich, anders lässt sich die enorme Zahl von über drei Millionen Follower*innen kaum erklären.

Die Idee, dass man selbst für seine Zufriedenheit verantwortlich ist, hat schon einige Jahre auf dem Buckel. Vor bald einem Jahrhundert entwickelte der Psychoanalytiker C.G. Jung den Begriff “Individuation”, die Bewusstwerdung des eigenen Selbst und meinte damit im übertragenen Sinne die Verantwortung für die eigene Entwicklung. Auch Dr. LePera greift in ihrem Ansatz nach eigenen Angaben auf die jungsche Theorie zurück und bleibt auch mit dem Gebrauch von Begriffen wie dem Ego und dem Unterbewusstsein im Reich der Psychoanalyse (wie zum Beispiel bei diesem Post).

Das Bild am Strand von Venice Beach ist eines der wenigen Fotos auf dem Profil von “The Holistic Psychologist”, was die Gründerin Dr. Nicole LePera zeigt. Sie ist nämlich keine klassische Influencerin, die sich tagtäglich in Pose werfen würde. Lieber teilt sie Textpassagen, die in einfacher Sprache ihren Ansatz vermitteln. Vieles an Dr. LePera mag überraschen, etwa dass sie mit psychoanalytischen Begriffen hantiert, während sie einen naturwissenschaftlichen Hintergrund hat. Sie machte ihren Doktortitel in Psychologie an der New School, einer etablierten Universität von New York und liess sich zur Therapeutin ausbilden. Ihre klinisch-psychologische Herkunft kritisiert sie heute: “Das Hauptproblem in der klinischen Psychologie ist die fehlende Selbstverantwortung”, sagte sie Anfang diesen Jahres in einem Interview mit dem US-Amerikanischen Magazin “Forbes”.

Im Juli 2018 lancierte sie ihren Instagram Account, nach eigenen Angaben, mit dem Ziel, möglichst viele Menschen dabei zu unterstützen, aus eigener Kraft ihre Traumata zu heilen. Unter Trauma versteht die Psychologin einerseits klinische Krankheitsbilder, aber auch ganz umgangssprachlich die kleineren Verletzungen des Lebens; Kränkungen und Unsicherheiten, die durch meist frühkindliche Lebensbegleiter*innen ausgelöst wurden.

Empowerment ist die feministische Attitude mit der frau heutzutage dem Patriachat entgegentritt.

Die Vorstellung, dass frau ihres Glücks eigne Schmiedin ist, liegt im Trend: Selbstermächtigung, was zu Englisch “Empowerment” heisst, ist aktuell der Modebegriff der feministischen Strömung. Vielleicht deshalb, weil er so vielseitig ausgelegt werden kann: Gesellschaftlichen Normen trotzend beinhaltet er etwa die Ausschöpfung des eigenen Potentials, die Verfolgung von Ambitionen oder die Selbstakzeptanz von inneren und äusseren Belangen. Empowerment ist die feministische Attitude mit der frau heutzutage dem Patriachat entgegentritt.

Unterdrückung und Diskriminierung, welche wiederum zu seelischen Verletzungen führen, gehören in den Bereich der kollektiven Verantwortung.

Trotz dieser Auslegung von “The Holistic Psychologist” gibt es zeitgleich ein Problem mit Dr. Nicole LePeras Ansatz. Es gibt ein Punkt, an dem die Selbstverantwortung an eine Grenze stösst. Nicht alles lässt sich mit der Arbeit am Selbst heilen. Unterdrückung und Diskriminierung, welche wiederum zu seelischen Verletzungen führen, gehören in den Bereich der kollektiven Verantwortung. Empowerment verschleiert zum Teil die Tatsache, dass Privilegien nach wie vor ungleich verteilt sind und lässt damit eines der wichtigsten feministischen Belange aussen vor. Das gilt neben Frauen ebenso für andere diskriminierte Gruppen; wie etwa POC oder queere Menschen. Sie sind alle besonders häufig Opfer von psychischen Erkrankungen, zahlreiche Studien belegen das.

Auch wenn wir Diskriminierung selbstermächtigt entgegentreten können, müssen wir uns zurückbesinnen, dass struktureller Wandel und damit auch die individuelle Gesundheit (gerade von unterdrückten Gruppen) auch in der Verantwortung vom Kollektiv liegt. “Ich glaube fest daran, dass wir zu 100% für unsere Gedanken, Verhalten und Reaktionen selbst verantwortlich sind. Egal woher jemand kommt”, schreibt Dr. Nicole LePera in einem Post. Welch enorme Kraft im Empowerment liegt, steht ausser Frage. Bei der Prozentzahl hat sich Dr. LePera wohl aber dann doch etwas vertan.

Photocredits: Instagram