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Frauen, die migrieren: Was sie bewegt und was sie bewegen

Stefanie Bracher

Tsighereda

Von Natur aus sind wir keine statischen Wesen. Wir bewegen uns, ziehen um, migrieren und werden zu “Migrantinnen” und “Migranten”. Dabei werden nicht nur materielle Dinge eingepackt, es reisen auch Geschichten, Kulturen, Hoffnungen und Ängste mit. Neue und spannende Impulse entstehen und Frauen spielen dabei eine unglaublich wichtige Rolle. Ich unternehme eine kleine Reise von Lateinamerika bis nach Afrika und höre Frauen zu, die sich entschieden haben in die Schweiz zu kommen und heute hier zuhause sind.

Meine Mutter Monica ist in den 70er Jahren von Chile in die Schweiz migriert. Als Kleinkind wusste ich bald mal was eine Piñata ist, durfte alle paar Jahre dem kalten Winter entfliehen und Weihnachtsgeschenke unter einem Plastikbaum bei 32 Grad auspacken. Kürzlich bei einem Abendessen sprechen wir über ihre erste Zeit in der Schweiz. Sie erzählt mir, wie schnell sie in gemeinnützigen Vereinen aktiv wurde und wie realitätsnah sie den Menschen hier über die damalige Diktatur in Chile berichten konnte. Im Gespräch merke ich, dass sie sich nicht bewusst war, wie stark Frauen mit ihrer Einwanderungsgeschichte etwas bewegen, informieren und andere inspirieren.

Monica: Caminar dejando huella para saber regresa – Fussabdrücke hinterlassen, sodass “frau” zurückkehren kann …
Laut der internationalen Organisation für Migration (IOM) gibt es weltweit 272 Millionen Migrantinnen und Migranten, 48 % davon sind Frauen. Gemäss eines Kurzberichts der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM) müssen sie höhere Hürden überwinden als migrierte Männer.

Vor über 30 Jahren ist Tsighereda mit ihren Kindern aus Eritrea in die Schweiz gekommen. Es war Winter. Die bürokratischen Prozesse waren damals etwas träger, die kleine Familie wohnte teils in Passantenheimen oder abrissgefährdeten Unterkünften. Es fühlte sich an, als ob der kalte Winter nicht vorbeigehen wollte. Nach acht langen Jahren erhielt sie eine Aufenthaltsgenehmigung und konnte so ihren ersten Job wahrnehmen. Es folgte der Weg in die Eigenständigkeit und Autonomie, der ohne die Unterstützung der Behörden jedoch nicht möglich gewesen wäre. Dies stärkte sie und macht sie heute stolz.

Die Entscheidung in ein neues Land zu ziehen kann unterschiedliche Gründe haben. Bei Valeria, gebürtige Mexikanerin, war es die Ausbildung. Zuvor lebte sie lange in Madrid und mit jungen 19 zog sie dann für ein Studium nach Zürich. Heute erinnert sie sich, wie ängstlich und emotional aufgewühlt sie war, als sie sich von ihrer Familie verabschieden musste. Eine neue Freiheit wartete auf sie, doch auch alleinige Verantwortung. Der Weg in die Eigenständigkeit war herausfordernd und auch Valeria musste Diskriminierungserfahrungen machen. So zum Beispiel in ihrem Nebenjob in einem Zürcher Nachtclub. Valeria erzählt, dass es immer wieder Gäste gab, die sich angegriffen fühlten, dass ihnen eine Frau mit spanischem Akzent den Einlass in die Diskothek verbieten konnte: “Mit der Zeit wurde mir bewusst, dass ich bestenfalls gar nicht auf diese Provokationen eingehe, da diese Menschen oftmals genau diese Konfrontation suchen, um sich überlegen zu fühlen.”

Valeria: Vengo de un pueblo valiente, de gente que lucha el pan con las uñas y los dientes – Ich komme von einem mutigen Volk, wo Leute sich das Brot unermüdlich erkämpfen…

Auch Vanessa aus der Dominikanischen Republik hat in den letzten Jahren ihre eigene Taktik entwickelt, wie sie mit unangenehmen Situationen umgeht: “Wenn ich einen verletzenden Kommentar bezüglich meiner Herkunft höre, versuche ich gelassen und beispielhaft zu reagieren. Ich möchte die positiven Attribute meiner Kultur unterstreichen, und nicht vergessen, wer ich bin und wie mich das Leben in der Karibik geprägt hat.”

Vanessa: De ningún lado del todo y de todos lados un poco – Von nirgendwo ganz, und doch von überall ein bisschen…

Frauen mit einer internationalen Geschichte werden oft aufgrund unterschiedlicher Attribute (Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Religion usw.) beurteilt und erfahren so Mehrfachdiskriminierung. In Folge kann es zu einer stärkeren Benachteiligung im Vergleich zu Einheimischen und männliche Migranten kommen. Doch genau wie die einheimische Bevölkerung und männliche Migranten gehören auch migrierte Frauen zu unserer Gesellschaft und in unseren Alltag. Sie leisten einen bereichernden Beitrag zur allgemeinen Kultur, sind in Vereinen und Organisationen aktiv, sind Korrespondentinnen der Geschehnisse aus ihrem Heimatland. Sie prägen die Schweizer Gesellschaft in innovativer Weise – sei es im Rahmen von Aufklärungs- und Sensibilisierungarbeit, im politischen oder kulturellen Bereich. Vanessa freut sich: “Ich bin gerade erst Mutter geworden und freue mich immens, dass meine Tochter in einem interkulturellen Haushalt aufwachsen wird. Daher ist es mir wichtig – und ich fühle mich verantwortlich, dass ich viel über die Schweizer Kultur und Mentalität lerne und verstehe. So kann ich ihr gewisse Dinge mitgeben.”

Frauen, die migrieren sind Brückenbauerinnen zwischen Kulturen. Valeria erzählt: “Jede Kultur hat tolle und weniger gute Aspekte. Sexismus ist in der mexikanischen Kultur leider noch tief verankert. Jährlich werden tausende Femizide registriert. Auch in der Schweiz läuft nicht alles einwandfrei; dennoch konnte ich in puncto Gleichberechtigung und Gleichstellung viel dazulernen und dies in Familiengesprächen weitergeben. Es findet also ein Austausch statt.”

Die sozialen Denksanstösse, welche von Migrantinnen ausgehen, sind zwar noch wenig erforscht, doch in unserem Umfeld können wir diese Impulse spüren. Alle Frauen, die in diesem Text mitwirken, betonen, dass Integration für sie wichtig und notwendig ist. Alle sind aus unterschiedlichen Gründen in die Schweiz gekommen, und doch teilen sie alle gewisse Gemeinsamkeiten – wie so viele migrierte Frauen in diesem Land.

Ich wünsche mir eine Integration, die begleitend und fördernd ist – und nicht nur fordernd. Dass wir den wertvollen, gesellschaftlichen Beitrag von Migrantinnen und Migranten sichtbarer machen und in den Medien und in der Öffentlichkeit diskutieren. Wir sind alle Teil einer Gesellschaft, die sich bewegt.

Illustrations: Angelica Machado for fempop