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Landliebe

Carina Iten

Ich wohne mitten im Zürcher Kreis 3 und liebe es. Ich kann mir nicht vorstellen in ferner Zukunft je woanders wohnen zu wollen. Doch als während dem Lockdown die Strassen vor meinem Haus ungewohnt leer wurden, die Geschäfte und Bars ihre Türen auf unbestimmte Zeit schlossen und ich meinen Alltag neu definieren musste, sehnte ich mich plötzlich nach einem ganz anderen Ort – einem von dem ich vor fünfzehn Jahren nicht schnell genug wegkommen konnte.

In diesen Tagen hätte ich im Flieger nach Bali sitzen sollen. Nach sechs Jahren im gleichen Job wollte ich etwas Neues und das Gefühl von Freiheit. Ich wollte für einmal nicht wissen, was in einer Woche ist oder in welchem Bett ich schlafen werde. Vier Monate weg. Weg von meinem Job, weg von meiner Wohnung, weg von Zürich. Vier Monate nur für mich. Als der Lockdown kam, war mir aber augenblicklich klar, dass aus meinem Sabbatical nichts wird und ich den Sommer in der Schweiz verbringen werde.

Die erste Zeit in Quarantäne war mehr ein Erholen vom anfänglichen Schock. Mit einer neuen Morgenroutine schaffte ich langsam aber stetig den Alltag, die Gedanken und Gefühle neu zu ordnen. Nach etlichen Spaziergängen durchs Quartier kenne ich endlich alle Strassennamen, habe meinen neuen italienischen Lieblingsfeinkostladen entdeckt und den besten Bio-Wein auserkoren. Nach zwei Monaten kenne ich die beste Joggingstrecke, alle Altglasentsorgungsstellen im Umfeld von einem Kilometer und die Dialoge von Vikings auf Netflix auswendig. Ich habe angefangen zu nähen, meinen Kleiderschrank ausgemistet und meine Wohnung umgestellt. Ich habe mit einem digitalen Meditationskurs begonnen, neue Rezepte ausprobiert und eine ausgeprägte Apéro-Kultur gepflegt.

Ich sehnte mich nach einem Ort, wo all das Verrückte, was gerade auf der Welt passierte, in den Hintergrund rückte und ich wieder frei atmen konnte.

Und doch musste ich feststellen, dass wenn plötzlich alles weg fällt, was früher meinen Alltag ausgefüllt hatte, – wie der tägliche Gang ins Büro, die Spinning-Kurse nach der Arbeit, sich mit Freunden in einer Bar treffen, Kino- und Restaurantbesuche, kulturelle Veranstaltungen, Cüpli schlürfend am Bullingerplatz sitzen und die Füsse in den Brunnen halten, die Nacht durchfeiern in einem stickigen Club und Sonntag Brunchen bis nachmittags um drei –, wollte ich nur noch weg von diesen leeren Strassen, dieser ungewohnten, unheimlichen Stille mitten in der Stadt, weg von den geschlossenen Geschäften und Bars. Ich sehnte mich nach einem Ort, wo all das Verrückte, was gerade auf der Welt passierte, in den Hintergrund rückte und ich wieder frei atmen konnte.

Wiese mit Blick auf Ägerisee

Ich sehnte mich nach dichten Wäldern, die sich kilometerweit hinziehen, nach saftig grünen Wiesen vollgesprenkelt mit Blumen in allen Farben, nach weidenden Kühen, nach imposanten Bergketten am Horizont. Nach Harmonie, nach ein wenig Beständigkeit in dieser zu schnell rotierenden Welt, die langsam aus den Fugen gerät. Ich sehnte mich nach dem Ort meiner Kindheit, wo ich in den Hecken des Nachbars Himbeeren gepflückt habe, wo all meine Freunde nur ein paar Türen weiter wohnten, wo wir im Sommer in die Badi radelten und im Winter vom Hügel geschlittelt sind. Ich sehnte mich nach etwas Vertrautem, nach einem Ort, der in meinem Kopf immer ein kleines Paradies bleiben wird. Ich sehnte mich nach einem Stück heile Welt, wo wir uns nie vorstellen mussten, dass sich Worte wie Corona oder Covid-19 je in unserem Wortschatz finden würden.

Diesmal aber war es anders. Auf einmal lernte ich die Sachen zu schätzen, die mich als Jugendliche hier wegtrieben.

Ich packte meine Sachen zusammen und ging an den Ort, wo ich mit 18 Jahren nicht schnell genug wegkommen konnte. An den Ort, wo mir die Leute engstirnig und konservativ erschienen. Die scheinbar nichts anderes kennen wollten, als dieses Dorf, die Handvoll Geschäfte und die immer gleichen Gesichter. Diesmal aber war es anders. Auf einmal lernte ich die Sachen zu schätzen, die mich als Jugendliche hier wegtrieben. Der ungetrübte Blick in die Berge, der kurze Wortwechsel mit Bekannten auf der Strasse, die gemütlichen Spaziergängen durch nie enden wollende Feldwege, keine Pläne für den Samstagabend zu haben, dafür lange Gespräche mit meinen Eltern abends bei Wein am Tisch. Tatort schauen zu dritt zusammengedrückt auf der Couch, geweckt werden nicht vom Wecker, sondern wildem Vogelgezwitscher morgens um fünf.

Endlich konnte ich wieder durchatmen, endlich konnte ich wieder ankommen. Nicht an diesem Ort, sondern bei mir.

Bevor das Dorf allmählich erwachte, ging ich am Seeweg joggen. Es ist seit jeher mein Lieblingsort im Dorf, normalerweise tummeln sich hier Spaziergänger*innen. Nicht so an diesem Morgen, ich hatte das ganze Panorama mit Blick auf den See für mich. Später spazierte ich mit meiner Familie um den Ägerisee, auf halber Strecke beim Denkmal in Morgarten öffnete mein Vater eine Flasche Wein. Während wir da so sassen, sich unsere Gesichter im klaren See spiegelten und um uns herum Margeriten und Löwenzahn blühten, kam in mir ein langverlorenes Gefühl von Glück auf. Endlich konnte ich wieder durchatmen, endlich konnte ich wieder ankommen. Nicht an diesem Ort, sondern bei mir.

Meine Joggingstrecke am Seeweg

Mein Sabbatical hätte eine Auszeit sein sollen, um ganz weit weg wieder bei mir anzukommen. Dabei habe ich lernen müssen, dass ich dafür nicht tausende Kilometer in die Ferne fliegen muss. Ich glaube auch nicht, dass ich nach all dem je wieder so unbeschwert durch dich Welt jetten werde wie früher, dass ich mit gutem Gewissen von Reiseplänen erzähle, die mehrere Flugstopps inkludieren, von Citytrips zum Schnäppchenpreis oder billigen Sommerkleidern, die ich irgendwo im Web fand. Corona hat uns zum Glück auch wachgerüttelt, was den Klimaschutz angeht und den Finger ganz tief in die Wunde gesetzt, da wo es uns am meisten wehtut ­– bei unserer Freiheit. Denn was nützt uns Freiheit, wenn sie auf Kosten unserer Natur geht, wenn wir all die schönen Orte irgendwann nicht mehr besuchen können, weil sie nicht mehr existieren. In einer so kurzen Zeit konnten wir so vieles bewegen, in China um Beijing herum war die Umweltverschmutzung fast gänzlich vom Radar verschwunden, in Indien konnten manche Dörfer nach Jahren wieder den Himalaya sehen und die Wolkenkratzer in LA waren erstmals frei von Smog. Ich habe in meinem Innenhof exotische Blumen entdeckt und Eichhörnchen mitten in der Stadt.

Ich weiss nicht, was Corona mit uns als Gesellschaft und als Individuen macht, aber ich hoffe, wir nehmen uns auch in Zukunft öfters Zeit, um innezuhalten, um durchzuatmen und anzukommen – nicht irgendwo in der Ferne, sondern hier in unserem Alltag. Auch wenn langsam alles wieder in eine neue Normalität führt, ich nirgendwo lieber sein will als mitten in der Stadt, so nehme ich mir die Natur als Vorbild. In einer Krisenzeit, wie wir sie alle noch nie erlebt haben und hoffentlich auch nie mehr erleben müssen, blühte die Natur an Ort und Stelle auf und zeigte uns ihre schönste Seite. Und das können auch wir. Indem wir alle öfters für einen Moment pausieren, kann die Natur durchatmen und wir finden eine neue Welt, direkt vor unserer Haustüre.

Photocredit: Carina Iten