Valentine's IssueZeitgeist

Liebesgeständnis an den Feminismus

Noemi Grütter

Wir sind keine Huren. Wir sind keine Heiligen. Wenn wir vor mehr als 300 Jahren gelebt hätten, wären wir verbrannt und gehetzt worden. Wir sind wütend. Wir sind laut. Wir sind kritisch. Wir sind empathisch. Wir sind da, die eine für die andere. Wir sind fortschrittlich und progressiv. Wir wollen Gleichberechtigung. Wir sind Feministinnen.

Die Strassen färben sich violett. Tausende Frauen und Männer gehen in der ganzen Schweiz auf die Strassen. Dieser Aufschrei war kein einmaliges Ereignis; es war die Arbeit, die Wut und die Erfahrungen, die Frauen in der Schweiz machen, jeden einzelnen Tag. Es war eine der grössten Demonstrationen, die die Schweiz je gesehen hat. Und es war erst der Anfang einer kulturellen Veränderung in unserer Gesellschaft. Der Streik und die dadurch bereits Monate davor angestossenen Diskussionen haben die Räder des Umdenkens beschleunigt, wenn nicht sogar ins Laufen gebracht.

14. Juni 2019

“Noch nie habe ich das Wort ‘sisterhood’ so intensiv erlebt. Als mich mein Vater und der Freund meiner Schwester weinend in die Arme nahmen, wusste ich: Das Ziel ist erreicht! Sie haben verstanden, um was es geht. Sie spüren, welches Leid, welche Wut, welche Hoffnung wir in uns tragen.”

Ich durfte den Streiktag in Luzern eröffnen. Es wurde Weckruf genannt. Ich sorgte dafür, dass auch der Hinterletzte zuhören musste und schmetterte meine Parolen ins Publikum. Es kam mir ein Jubel entgegen, der mich sprachlos machte. Das, was mich nach der Ansprache erwartete, war noch viel grösser als das, was ich erwarten konnte. Ich wurde in Arme genommen, mir wurden Geschichten erzählt, es wurde geweint, gelacht, diskutiert und mir wurde gedankt, ausgesprochen zu haben, was so viele fühlen. Noch nie habe ich das Wort “sisterhood” so intensiv erlebt. Als mich mein Vater und der Freund meiner Schwester weinend in die Arme nahmen, wusste ich: Das Ziel ist erreicht! Sie haben verstanden, um was es geht. Sie spüren, welches Leid, welche Wut, welche Hoffnung wir in uns tragen.

Zu sehen, dass einkommenslose Bäuerinnen, diskriminierte Katholikinnen, Mütter mit Kinder- und Elternbetreuungspflichten und die Queer-Community nebeneinander streiken und demonstrieren, war das schönste Erlebnis meines bisherigen Lebens. Meine Mutter gelang es, nach dem Streik im Jahr 1991 die erste Kinderkrippe im konservativen Kanton Nidwalden aufzubauen. Was passierte nach dem Frauenstreik 2019?

In Luzern konnten die Frauen bereits nach wenigen Stunden einen handfesten Erfolg feiern. Eine Reinigungsfirma sicherte den Mitarbeiterinnen zu, dass Vor- und Nachbearbeitungsarbeiten, sowie die Anreisezeiten ab sofort entlohnt werden. Und es wurde bald auch national konkret: Seit Oktober 2019 sitzen so viele Frauen im Parlament wie noch nie in der Schweizer Geschichte. Bundesrat und Nationalrat wollen Tampons, Binden und Slip-Einlagen verbilligen. Eine Quote in den Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten der grössten Firmen wurde eingeführt. Die Rechtskommission des Ständerates erklärte sich bereit, die Gesetzesvorschläge für eine Revision des Vergewaltigungsgesetzes genauer anzuschauen; die Hoffnung, dass Sex ohne Einwilligung endlich als Vergewaltigung gilt, ist gestiegen.

14. Juni 2019

Im Anschluss an den Frauenstreik entliess das Kunstmuseum Basel zwei Frauen. Kündigungsgrund: Sie hatten am 14. Juni gestreikt. Der Fall wurde augenblicklich publik, der Aufschrei war riesig, der Image-Schaden für das Museum, das sonst eher mit seiner Picasso-Sammlung auffällt, pompös. Die beiden Frauen bekamen ihre Jobs zurück. Und wir haben damit den Beweis: Frauen haben gelernt sich zu vernetzen, sich zu wehren, füreinander einzustehen und zu erkennen, dass frau alles erreichen kann, was sie will.

Der Einsatz für Feminismus, für Gleichberechtigung und Zusammenhalt ist eine Vollzeitbeschäftigung. 365 Tage im Jahr. Immer. Es erfordert Stärke, Mut, Reflexion, Grösse, Nachsicht und Durchhaltevermögen, die Gesellschaft zu einer Gemeinschaft zu verwandeln, die alle gleichermassen willkommen heisst, respektiert und unterstützt.

Einer der grossen Fehler, den der feministische Protest begehen kann, ist, zu schnell aufzugeben. Die Missstände die der Feminismus bekämpfen will, sind im Grossen und Ganzen bekannt. Frauen werden oft sexuell belästigt, offline und online. Frauen bekommen weniger Rente, aber arbeiten ihr ganzes Leben mehr. Frauen verdienen bei gleicher Arbeit, weniger Geld. Die Kunst des Feminismus liegt darin, auch diese allseits bekannten Fakten immer und immer und immer und immer wieder vorzubringen.

14. Juni 2019

“Stereotypen, Rollenbilder und Gesellschaftsregeln werden gebrochen, hinterfragt und aufgedeckt. Das macht Feminismus für viele unangenehm. Doch wenn ich an Feminismus denke, durchströmt mich Liebe.”

Man kann es als Feministin nie allen recht machen, man wird kritisiert, hinterfragt und man muss sich Diskussionen stellen. Aber es allen recht zu machen, das war auch nie die Idee vom Feminismus. Die Idee vom Feminismus ist es, eine Ordnung zu durchbrechen, die mit Machtverhältnissen unsere Welt in den Abgrund treibt. Stereotypen, Rollenbilder und Gesellschaftsregeln werden gebrochen, hinterfragt und aufgedeckt. Das macht Feminismus für viele unangenehm. Doch wenn ich an Feminismus denke, durchströmt mich Liebe.

Ich liebe den Feminismus. Ich liebe es, dass wir miteinander und füreinander kämpfen und somit alles erreichen können, was wir wollen, wenn wir zusammenstehen. Ich liebe die Schwesternschaft, die Empathie, das geteilte Leid und die geteilte Hoffnung. Und ich liebe dich, Teenagerin, die sich keine Kleidungsregeln vorschreiben lässt. Ich liebe dich, Seniorin, die genug hat von der mickrigen Rente. Ich liebe dich, Lesbe, die mehr sein will als eine heteronormative Pornokategorie. Ich liebe dich, Junge, der verdammt noch mal ein Nein akzeptiert. Ich liebe euch, Feministinnen und Feministen, ihr, die tagtäglich gegen das System kämpft. Ihr, die gegen die Regeln der Gesellschaft verstosst. Ihr, die euch vom Patriarchat die Grenzen nicht zeigen lässt.

Ich liebe euch und ich werde euch für immer lieben! Happy Valentine’s Day!