“Geh’ ja nicht ins Wasser, es ist gefährlich und unberechenbar.” Viele Kinder, die in den unzähligen Dörfern entlang der panamaischen Pazifik- und Karibikküste aufwachsen, sind von dieser Warnung voreingenommen. Das kleine mittelamerikanische Land ist von beiden Seiten vom Meer gesegnet und wird durch das technische Weltwunder, den Panamakanal, getrennt. Meine Kurzgeschichte erzähle ich aus Pedasí, ein kleines Fischerdorf und beliebte Seniorenoase für pensionierte Amerikaner_innen. Auch junge Leute, die von den Wellen herbeigerufen werden, verschlägt es hierher. Surferinnen und Surfer kommen als Tourist_innen und bleiben, führen ihren Lifestyle fort, umgegeben von Sand, weiten Feldern und tropischen Palmen. Mein Zuhause für die nächsten paar Monate bringt mich in Kontakt mit Frauen, die vor nichts zurückschrecken, auch nicht vor Wellen oder den Männern, die das Surf-Ambiente noch immer dominieren. Eine davon ist Vivu, eine junge Panamaerin, die mit ihrer Lebensfreude ansteckt. Im Gespräch erzählt sie mir von ihrem Weg zum Wasser – wie alles begonnen hat – mit Angst – und wo sie heute steht.
Ich treffe Vivu heute nicht zum ersten Mal. Einige Wochen zuvor haben wir auf einer Party über das eher ruhige Dorfleben und die momentane Mango-Saison geplaudert. Vivu surft nicht, sie macht Bodyboarding. Wo ist da der Unterschied zum Surfen? Ein Surfbrett wird stehend gefahren, ein Bodyboard im Liegen. Gegebenenfalls stützt man sich für bestimmte Manöver auf ein oder beide Knie. Sie erzählt, dass sie relativ spät damit angefangen hat. Vivu wächst in Panama City auf, wo der Zugang zu körperlichen Aktivitäten gering ist. Als kleines Mädchen wird ihr gesagt, sie soll sich vom Meer fernhalten, da dieses gefährlich sei. Vivu erlebt Gewalt und wird von einigen harten Schicksalsschlägen getroffen. Doch wie so oft im Leben, führen markierende Ereignisse zu bedeutenden Wendungen – so auch Vivus Scheidung: “Nach der Trennung schloss ich mich drei jungen Surfern an, die fast täglich an den Strand gingen. Ich machte das Gleiche wie sie, und war Tag für Tag mit der jungen Bande unterwegs; schaute ihnen zu, ging ins Wasser, schluckte viel davon, verletzte mir meine Beine und Füsse durch die Aufschläge und die misslungenen Versuche irgendwie halbwegs aufs Brett zu kommen.” Doch für Vivu ist klar: Jetzt gibt es kein Zurück mehr; sie will und wird bodyboarden.
Einige Zeit später verbringt sie einige Tage in Destiladeros, ein anderer Strandort in der Nähe von Pedasí. Beim Bodyboarden passiert es, und Vivu beschliesst, mit ihrer kleinen Tochter die Stadt zu verlassen und einen Neustart in Pedasí zu wagen. Möbel, Kleider, Spielzeug und ihr Bodyboard werden in einen Viehanhänger gepackt und los geht die Reise. Sie erinnert sich: “Meine erste Zeit in Pedasí war nicht immer einfach. Ich, als alleinerziehende Mutter, tätowiert und quirlig, fiel auf wie ein farbiger Hund. Nicht selten wurde ich einfach angestarrt.” Die Provinz Los Santos ist sehr vom Katholizismus und traditionellen Rollenbildner geprägt. Dass eine panamaische Frau selbstbewusst auf einem Brett durch das Wasser schwimmt, schockiert und erstaunt.
Ich frage mich, ob die kleinen Mädchen im Dorf es überhaupt wagen, davon zu träumen auch mal auf einem Brett zu liegen. Es sind vielmehr die Jungs, die man nach der Schule mit ihren Brettern am Strand abhängen sieht. Der patriarchalisch-dominierte Alltag prägt die Kinder bei ihrer Hobby-Wahl. Aber auch dem bietet Vivu die Stirn: “Genau deshalb finde ich die Arbeit von Waved Foundation so schön und endlos in ihren Möglichkeiten.” Diese Stiftung ist regional die einzige, welche die Kinder zu den dorfnahen Stränden bringt und deren Ängste und Unsicherheiten mit Lebensfreude und Selbstbewusstsein zu ersetzen versucht. Unter anderem wird Surf- und Schwimmunterricht für Kinder zugänglich gemacht. Vivu hilft hier ab und zu als freiwillige Instruktorin mit und berichtet: “An diesen Anlässen liegt mein Ziel darin, dass ich ein paar Mädels ermutigend die Angst vor dem Wasser nehmen kann und vielleicht sogar ihr Interesse an einer Wassersportart erwecke.”
“Den endlosen Ozean vor Augen zu haben, während man auf die richtige Welle wartet, ist gewaltig. Dieser Augenblick gehört nur mir und ich fühle mich unendlich frei dabei.”
Auch wenn Vivu oft die einzige Frau mit einem Bodyboard am Strand ist und der Alltagssexismus sich bemerkbar macht, zelebriert sie gerne ihre Verbundenheit mit dem Wasser und schwärmt: “Den endlosen Ozean vor Augen zu haben, während man auf die richtige Welle wartet, ist gewaltig. Dieser Augenblick gehört nur mir und ich fühle mich unendlich frei dabei.”
Und so wird Vivu ihren Weg weitergehen, ins Leben verliebt und neugierig. Ihr Lachen, ihre Passion und dieses unermüdliche Bestreben nach mehr, nach Fortschritt, haben mich inspiriert und tief berührt. Für die jungen Mädchen in Panama – aber auch überall sonst auf der Welt – wünsche ich mehr weibliche Vorbilder – in der Surf- und allgemeinen Sportkultur sowie in anderen Bereichen. Frauen, die neue und andere Wege gehen und sich nicht davor scheuen, den Kampf immer wieder aufzunehmen – egal, wie hoch die Wellen. Das feiere ich.
Photocredit: Guacate Films