Noemi Grütter ist aktiv, sehr aktiv. Bereits in der Primarschule setzt sie sich mit Frauenrechten auseinander, als Teenagerin lanciert sie eigene Projekte, unterstützt Migrantinnen und repräsentiert als UNO-Jugenddelegierte die Schweizer Jugend bei den Vereinten Nationen. Heute ist sie Co-Präsidentin von Sexuelle Gesundheit Schweiz und Koordinatorin von deren Jugendnetzwerk. Im Interview mit fempop sprach die junge #heroine über ihre Liebe zum Leben, die Wichtigkeit einer allumfassenden Sexualaufklärung und den Vibe einer Generation, die nicht mehr länger den Mund halten will.
Für unsere Leser_innen, die dich noch nicht kennen: Wer ist Noemi Grütter und was macht sie aus?
Noemi Grütter ist eine 23-jährige Menschenrechtsaktivistin und passionierte Feministin, die sich nichts gefallen lässt, nichts stehen lässt, ihre Meinung immer und überall mitteilt, sich einsetzt, wo sie kann, die Welt sehr kritisch hinterfragt und ihr Leben sehr intensiv lebt. Aufgewachsen in einem Dorf mit 1500 Bewohner_innen im Kanton Nidwalden in einem Haushalt mit fünf Frauen und einem feministischen Vater, habe ich eine gewisse Bodenständigkeit mit auf den Weg bekommen und früh gelernt, eine andere Meinung zu vertreten als die der Mehrheit. Ich glaube, was mich ausmacht ist, dass ich sehr schnell und früh gemerkt habe, was ich möchte und diese Ziele immer verfolgt habe. Ich empfinde viel Liebe für diese Welt und für das Leben. Und auch wenn ich mich tagtäglich gegen Diskriminierungen einsetze und mich mit schlimmen Menschenrechtsverletzungen befasse, tanze ich am Wochenende mit meinen Freund_innen die Nächte durch, lache, bis der Bauch schmerzt und nehme das Leben nicht immer ganz so ernst. Vielleicht ist es diese Liebe und Gelassenheit, die mich politisch so vorantreibt.
Wohin hat dich diese Lebenslust politisch schon hingebracht?
Bereits mit zehn Jahren machte ich mit meinen männlichen Lehrern Interviews zu Frauenrechten. Mit 17 Jahren startete ich mein eigenes Tanzprojekt mit Frauen mit Migrationshintergrund; nebenan arbeitete ich jahrelang in der Jugendarbeit und startete ein Mädchenprojekt, um junge Frauen zu fördern. Mit 19 Jahren, nach meiner Matura, ging ich für ein halbes Jahr alleine nach Südamerika, um bei unterschiedlichen Projekten mitzuwirken und zu reisen. Diese Reise war die grösste Challenge und das grösste Glück meines bisherigen Lebens zugleich. Später ging ich nach Genf, um internationale Beziehungen zu studieren. Heute arbeite ich als Campaignerin für Frauenrechte bei Amnesty International und bin nebenbei Co-Präsidentin von Sexuelle Gesundheit Schweiz, dem schweizerischen Dachverband für die Förderung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit sowie der sexuellen Rechte. Diesen Sommer zieht es mich schon wieder weiter nach Paris, wo ich ein Masterstudium in Menschenrechten und humanitäre Aktion machen werde. Ich bin ruhelos und angetrieben von einer riesigen Neugier auf diese Welt.
Mir wurde schlagartig bewusst, dass ich in einer solchen Schweiz nicht leben möchte; dass es eine tiefe Veränderung in unserer Gesellschaft braucht – und dass sie, die ältere Generation, unsere jungen Stimmen endlich ernst nehmen muss!
Unsere neue Ausgabe YOUTH widmet sich dem übergeordneten Thema Jugendaktivismus. Deine Geschichte zeigt, dass auch du bereits in jungen Jahren politisch aktiv warst. Wie ist dieser Aktivismus bei dir entstanden? Was hat das Bedürfnis ausgelöst, aktiv zu werden? Erinnerst du dich an einen bestimmten Moment?
Ich habe die Welt schon immer kritisch hinterfragt und habe schnell gemerkt, dass ich mit vielem, was auf dieser Welt passiert, nicht einverstanden bin. Ich bin mit der Selbstverständlichkeit aufgewachsen, dass Frauen und Männer gleiche Rechte und gleiche Chancen haben. Schon früh beobachtete ich jedoch, dass dies in unserer Gesellschaft noch nicht der Fall war, was ich schlicht und einfach nicht verstehen konnte. Wieso soll ich mich nicht mit den Jungs im Dreck raufen? Wieso ist bei meiner Freundin immer die Mutter zu Hause, währendem ich den Vater nie zu Gesicht bekomme? Wieso können wir Mädchen beim Trycheln nur die kleinen Kuhglocken nehmen? Als ich mich im Rahmen meiner Maturaarbeit mit der Integration von Migrantinnen befasste, öffnete mir dies die Augen bezüglich geschlechtsspezifischer Diskriminierung noch mehr. Ein wichtiger Moment war auch die Masseneinwanderungsinitiative. Deren Annahme hat so viel Wut, Enttäuschung und Trauer in mir ausgelöst. Ab diesem Tag wurde ich intensiv politisch aktiv. Ich wusste, dass die Zeit gekommen war, in der wir – unsere Generation – die ältere Generation nicht mehr einfach so machen lassen können. Mir wurde schlagartig bewusst, dass ich in einer solchen Schweiz nicht leben möchte; dass es eine tiefe Veränderung in unserer Gesellschaft braucht – und dass sie, die ältere Generation, unsere jungen Stimmen endlich ernst nehmen muss!
Du warst unter anderem auch Schweizer UNO-Jugenddelegierte –das klingt beeindruckend und spannend. Wie bist du dazu gekommen? Was macht man als Jugenddelegierte?
Im Jahr 2016 wurde ich vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten und der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände als eine von drei Youth Reps, also Schweizer UNO-Jugenddelegierte, ausgewählt. Voraussetzung dafür: freiwilliges Engagement, Dreisprachigkeit und eine hohe Motivation. In dieser Funktion durfte ich aufgrund meiner Erfahrungen und meines Interesse an Frauenrechten als Mitglied der offiziellen Schweizer Delegation an die “Commission on the Status of Women” an die UNO nach New York reisen. Das ist die grösste globale, interstaatliche Versammlung zur Promotion von Gleichstellung und der Stärkung der Frauen. Natürlich ging für mich damit ein Traum in Erfüllung!
Wow, toll! Und was konntest du in New York tun?
Ich war die einzige Jugendliche in der Delegation und meine Aufgabe war es, die Perspektive der Schweizer Jugend zu vertreten. In New York hatte ich zudem die Chance, einen Event in der Botschaft anzubieten. Ich machte mir intensiv Gedanken darüber, was uns Jugendlichen am meisten fehlt und wo der Ursprung dieser Ungleichheiten zwischen Frauen und Männer liegt. Ich kam darauf, dass es einen Ort gibt, an dem wir alle den gleichen Zugang zu Informationen haben: die Schule. Der Sexualunterricht ist der Ort, an dem man über Gleichberechtigung, Stereotype, sexuelle Orientierungen, Diskriminierungen diskutieren könnte. Ja, könnte – tut man aber meistens nicht. Man spricht über die Gefahren von Sex – und die Reproduktion. Die Delegation sagte mir, es sei eines der schwierigsten, umstrittensten Themen in der UNO, da konservative Länder wie der Vatikan oder Russland ihre ganz klaren Meinungen dazu haben. Da dachte ich mir: Na, dann lassen wir die Jugend sprechen! So entschied ich mich, einen Event zum Thema reproduktive und sexuelle Gesundheit und Rechte für Jugendliche zu organisieren. Zurück in der Schweiz wusste ich: Da muss ein nationales Projekt her! Und so begann ich, ein Jugendnetzwerk bei Sexuelle Gesundheit Schweiz aufzubauen. Darüber hinau besuchte ich einige Schulklassen, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und ein Jugendgefängnis, um über die UNO, Menschenrechte und Frauenrechte zu diskutieren. Ich organisierte Events, repräsentierte die Schweizer Jugend an Podiumsdiskussionen, und war immer wieder an der UNO in Genf. In dieser Zeit durfte ich überall in der Schweiz unglaublich interessante und engagierte Jugendliche kennenlernen.
Und genau die sozialen Medien, die so oft verflucht werden, sind das stärkste Mittel für Aktivismus seit Jahrzehnten. Nie zuvor waren Bewegungen so schnell, so gross, so einflussreich, weil die Mobilisation durch die sozialen Medien so einfach geworden ist.
Heute erheben vor allem auch junge Menschen – Stichwort Greta Thunberg – ihre Stimme, sie werden laut und gehen auf die Strasse, um sich für politische Themen einzusetzen und auf Probleme aufmerksam zu machen. Wie erklärst du dir dieses grosse Bewusstsein einer Generation, die vermeintlich von den sozialen Medien, Oberflächlichkeiten und dem Schnelllebigen geprägt ist?
Ach, diese Bewegung macht mich so überglücklich! Endlich sieht die ganze Welt, was ich in meiner Generation schon lange spüre. Wir sind geprägt von den sozialen Medien. Wir sind geprägt von einer gewissen Oberflächlichkeit. Alles muss schnell gehen. Alles ist vergänglich. Alles ist möglich. Aber wir sind uns verdammt noch mal bewusst, in was für einer Welt wir leben: In einer Ära, die geprägt ist von Trump und Bolsonaro, von der Untätigkeit seitens Politiker_innen in Punkto Klimaerwärmung, von einem Rechtsrutsch in ganz Europa, von Terrorismus und Krieg in Syrien und dem Yemen, von Frauenfeindlichkeit und Diskriminierung; in einer Zeit, in der die Todesstrafe gegen Homosexuelle in einigen Ländern einfach bestehen bleibt. Wir wollen nicht in solch einer Welt leben – wir haben keinen Bock mehr! Wir holen uns unsere Zukunft zurück. Und genau die sozialen Medien, die so oft verflucht werden, sind das stärkste Mittel für Aktivismus seit Jahrzehnten. Nie zuvor waren Bewegungen so schnell, so gross, so einflussreich, weil die Mobilisation durch die sozialen Medien so einfach geworden ist.
Wieso ist es deines Erachtens so wichtig, dass junge Menschen politisch aktiv sind und sich mit unterschiedlichen Fragestellungen – sei es Gleichstellung, Feminismus, Klimaschutz, etc. – auseinandersetzen?
Junge Menschen müssen unbedingt für sich selber sprechen. Nur sie wissen. was sie brauchen, was für sie stimmt und was sie für ihre Zukunft möchten. Ich glaube auch, dass unsere Generation viel aufgeschlossener und toleranter ist – weil wir eine grosse gesellschaftliche Entwicklung hinter uns haben. Wir denken internationaler und vernetzter. Junge Menschen müssen wissen, was ihre Rechte sind, damit sie dafür einstehen können. Deshalb ist die Bildung so wichtig – politische Bildung, aber auch Sexualaufklärung.
Und wir brauchen auch eine grössere männliche Unterstützung im Feminismus. Wir können es nur immer und immer wieder sagen: Feminismus will Gleichstellung. Nicht mehr. Und verdammt noch mal nicht weniger.
In welchen Bereichen siehst du noch Aktivismus-Bedarf? Welchen Themen müsste noch mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden?
LGBTIQ+ Themen. Zum Glück werden diesen Themen immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt, aber das ist noch nicht lange so. Ein Blick auf die Politik zeigt: Veränderungen in diesem Bereich brauchen lange und erfahren noch viel Gegenwind. Die Diskriminierung von LGBTIQ+ Personen ist in jedem Bereich erschreckend und hat langwierige Auswirkungen. Allgemein braucht das Thema sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte mehr Aufmerksamkeit. Und wir brauchen auch eine grössere männliche Unterstützung im Feminismus. Wir können es nur immer und immer wieder sagen: Feminismus will Gleichstellung. Nicht mehr. Und verdammt noch mal nicht weniger.
Heute bist du Co-Präsidentin von Sexuelle Gesundheit Schweiz und Koordinatorin vom Jugendnetzwerk Sexuelle Gesundheit Schweiz. Wie sieht diese Arbeit für dich aus?
Als Co-Präsidentin äussere ich mich zu strategischen und politischen Entscheidungen der Organisation, repräsentiere Sexuelle Gesundheit Schweiz an Events, Veranstaltungen und internationalen Konferenzen. Vor allem versuche ich die Jugendperspektive in verschiedenen Projekten und Diskussionen zu vertreten. In Punkto sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte ist es extrem wichtig, dass wir nicht eine andere Generation über uns entscheiden lassen. Als Organisation setzen wir uns politisch sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene für die Promotion und die Einhaltung der sexuellen Rechte ein: politisch, fachlich, sozial und strukturell. Die sexuellen Rechte sind sexualitätsbezogene Menschenrechte, die aus dem Recht aller Menschen auf Freiheit, Gleichstellung, Privatsphäre, Selbstbestimmung, Integrität und Würde abgleitet werden. So setzen wir uns beispielsweise gegen Gewalt an Frauen, für Geschlechtergleichstellung, gegen Diskriminierungen von LGBTIQ+ Personen und dafür ein, dass Frau das Recht hat ohne Zwang zu wählen, ob sie ihre Schwangerschaft fortsetzen möchte oder nicht.
Die von euch ins Leben gerufene Kampagne “Let’s talk about Sex…ualaufklärung” fordert eine umfangreiche Sexualaufklärung, die die sexuelle Diversität abdeckt. Wie ist die Idee dazu entstanden?
Ein paar biologische Fakten und bestenfalls ein Kondom über eine Banane stülpen? Kennt auch ihr das von eurem Sexualunterricht? Das reicht uns nicht. Mit der Kampagne “Let’s talk about Sex… ualaufklärung” setzen wir uns für eine ganzheitliche Sexualaufklärung ein. Nur die Schule erreicht alle Jugendlichen gleichermassen. Wir wünschen uns deshalb, dass sie ihre Aufgabe wahrnimmt und alle Aspekte der Sexualität und der sexuellen Rechte berücksichtigt, statt den Unterricht auf die Vermittlung von biologischen Fakten und potentielle Gefahren zu begrenzen. Wir wollen über Themen wie beispielsweise Verliebtsein, Gleichberechtigung und sexuelle Vielfalt sprechen. Deshalb fordern wir eine ganzheitliche Sexualaufklärung, die den Bedürfnissen von uns Jugendlichen entspricht, uns mitgestalten lässt und die Fragen beantwortet, die uns unter den Nägeln brennen. Nur so fühlen wir uns dabei unterstützt, einen selbstbestimmten Umgang mit unserem Körper und unserer Sexualität zu finden. Unsere Forderung haben wir in einem Manifest festgehalten, das junge Leute online auf www.jugend-sexuelle-gesundheit.ch unterzeichnen können. Wir wollen der Bevölkerung und der Politik damit zeigen, dass es viele junge Menschen gibt, die sich Sexualaufklärung mit einem positiven Zugang zur Sexualität und eine offene Kommunikation darüber wünschen. Es sind nun schon über 500 Jugendliche, die dem zustimmen. Die Idee entstand an einem Treffen mit vielen verschiedenen Jugendlichen. Jedes Jahr haben wir ein nationales Treffen, an dem über 30 Jugendliche, die sich für sexuelle und reproduktive Rechte engagieren, zusammen kommen. An einem dieser nationalen Treffen ist die Kampagne entstanden – sogar das Bild, Videomaterial und die Webseite sind von Jugendlichen gemacht.
Was rätst du jungen Menschen, die gerne selber aktiv werden möchten? Was sind deine Tipps?
Man soll sich in der Gesellschaft umschauen und sich fragen: Was macht mich wütend? Was wünsche ich mir anders? Wo würde ich gerne selber entscheiden? Mit diesem Themenbereich soll man sich dann vertieft auseinandersetzen. Das kann man in Vereinen, Organisationen oder mit einem passenden Studium. Das Wichtigste ist jedoch: Wage es! Move your ass! Man bekommt so viel zurück. Ich glaube es manchmal fast nicht, wie alles, was ich je investiert habe an Zeit, Energie und Nerven, zu mir zurückkommt. Probiert es aus!
Und wer ist deine persönliche #heroine?
Nadja Tolokonnikowa, Mitbegründerin der Pussy Riots. Ihre Aktionen haben die Welt bewegt, sie sind mutig, kreativ, humorvoll, provozierend und unermüdlich. Wie sie so schön sagt: “Du hast keine 500 Jahre – lebe in voller Wucht!” Ihr Aktivismus hat neue Schranken gesetzt und hat hunderte Aktivist_innen inspiriert. Die Pussy Riots zeigen, dass ziviles Engagement keine Heldentat ist, sondern eine Notwendigkeit. Sie haben eine Bewegung ins Rollen gebracht. Davon können wir uns alle ein Stück abschneiden. Eine andere #heroine für mich ist Giaconda Belli, meine Lieblingsschriftstellerin. Sie beschreibt das Frau-Sein so wunderbar intensiv, unabhängig, kämpferisch und selbstbestimmt. Sie hat revolutionäre, erotische Gedichte geschrieben, die mich tagtäglich inspirieren und begleiten.