“Jungs weinen nicht”
Jungs gehören genauso in die Diskussion über die Gleichstellung der Geschlechter wie Mädchen. Claire Cain Miller meint, dass sich die Optionen für Mädchen in den letzten Jahren erweitert haben, während das Leben von Jungen immer noch durch traditionelle Geschlechternormen eingeschränkt wird: Sie haben stark und athletisch zu sein. Solche Geschlechterklischees, die einen ‘harten’, unerschütterlichen und unemotionalen Mann zeichnen, halten sich hartnäckig und werden auch medial inszeniert. Ich weiss nicht, wie viele High-School-College-Filme – sexy Cheerleader und taffer Baseball-Schönling inklusive – ich in meiner Jugend gesehen habe, aber es waren genug. Ich finde es eigentlich okay, wenn Menschen sich mit diesen Stereotypen wohlfühlen und identifizieren; schwierig wird es, wenn solche Rollenbilder durch die Abwertung von anderen aufrechterhalten werden. Ganz à la: “Du Schwuchtel” – wenn Jungs sich untereinander mit Begrifflichkeiten beschimpfen, die ihre Männlichkeit in Frage stellen. Dies ist leider zu oft der Fall.
“Schwuchtel!”
Früher wurde ich regelmässig mit dem Wort Schwuchtel attackiert. Auch heute kommen Beleidigungen noch vor. Kürzlich an der Langstrasse in Zürich als ich mit Freund_innen unterwegs war – ich trug Glitter auf den Augen und hohe Schuhe – rief ein Typ: “Tu doch nicht schwul.” Was soll ich dazu sagen? Wenn ich so direkt mit Homophobie konfrontiert werde, bin ich auch heute noch paralysiert. Ich kann nichts entgegnen und möchte unsichtbar werden, um ja kein Aufsehen zu erregen. Ich fühle mich jedes Mal um Jahre in die Zeit zurückgeworfen, als ich noch mit mir haderte. Ich muss mich täglich selber daran erinnern, dass ich meine Männlichkeit niemandem beweisen muss.
Toxische Männlichkeit
Von übersteigerten Männlichkeitserwartungen und toxischer Männlichkeit sind auch Heteros betroffen. Jack Urwin hat in seinem Buch Boys Don’t Cry ausführlich beschrieben, was die toxische Männlichkeit bei seinem Vater angerichtet hat. Weil er ein so harter Kerl war, ging er nämlich nicht zum Arzt. Dieses Versäumnis hat bei ihm zu einem Herzinfarkt und schliesslich zum Tod geführt. Sein Verhalten bringt auf den Punkt, worum es bei toxischer -also schädlicher – Männlichkeit geht. Durch die eingangs erwähnten Geschlechterstereotype werden Männer dazu erzogen, ihre Gefühle zu unterdrücken und nicht darüber zu sprechen. Sie müssen die krassen Macker spielen und ihren Mann stehen. Weinen? Sich Niederlagen und innere Zwiespälte eingestehen? Liebeskummer? Schwul sein? No way! Im schlimmsten Fall führt das zu Gewalt. Gewalt gegenüber sich selbst oder gegenüber anderen.
“Das Konzept der toxischen Männlichkeit erklärt, warum zum Beispiel Homosexualität und Weiblichkeit so gefährlich fürs (toxisch) männliche Selbstbild sind – und warum Männer wenig andere Möglichkeiten haben, mit dieser Verunsicherung ihrer Identität umzugehen, als gewalttätig zu werden”, sagt Hannes Rudolph, Geschäftsführer der Homosexuellen Arbeitsgruppen Zürich (HAZ).
Männlich, weiblich?
Das Problem liegt an der systematischen Aufrechterhaltung der Geschlechteraufteilung in männlich und weiblich. Diese Ideologie wird teilweise sehr emotional verfochten. Gewisse Argumentierende verfallen in einen Biologismus und begründen ihre Ansichten gerne auch mit der Steinzeit, als der Mann noch ein Jäger war. Diese Sichtweise ist mittlerweile historisch sehr umstritten und die klaren Geschlechterrollen viel eher eine Fiktion. Und nur weil gemäss der Argumentation früher etwas mal so war, heisst es nicht, dass das auch gut war. Doch wie können wir die starre Einteilung in männlich / weiblich hinter uns lassen und endlich in eine Zukunft schreiten, die nicht mehr so fixiert aufs Geschlecht ist? “Mit Aufklärung”, so Hannes Rudolph. “Wissenschaftlich ist bereits lange klar, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt und dass die nicht durch die Genitalien oder Chromosomen definiert werden. Dieses Wissen sollte unbedingt Eingang in den Biologieunterricht und in Sachbücher und Aufklärungsliteratur für Kinder finden.”