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Chile Boys: Goodbye Patriarchat und was Prince damit zu tun hat

Stefanie Bracher

Chile, ein dünner Strich auf der Weltkarte, geprägt von einer langen Militärdiktatur und dem heutigen Neoliberalismus. 18 Millionen Menschen besiedeln das schmale Land. Davon meinen etwa 66% der Männer, dass die Rechte und Möglichkeiten in diesem eher konservativen Staat im südlichen Südamerika für alle gleich sind. Doch die Einstellung vieler Frauen zeichnet ein anderes Bild: Die aktuelle feministische Bewegung in Chile gilt als die grösste der vergangenen 40 Jahre, die gegen Macho-Gewalt und sexistische Bildung plädiert. Die Frauen stehen nicht alleine, viele Männer erkennen, dass für eine kulturelle Veränderung auch eine Veränderung des Latino-

en nötig ist. Dazu erzählt mir ein junger Familienvater – mein Cousin – von seiner laufenden Transformation zu einem Mann, der mit dieser Welle mit- und nicht dagegen schwimmen will.

Es ist heiss in der Hauptstadt Santiago: knapp über 30 Grad und das im Januar. Heute treffe ich mich mit meinem Cousin Ignacio, ein studierter Psychologe und Familienvater von 2 Kindern. Heute unterhalten wir uns über das südamerikanische Männlichkeitsbild, Machos und chilenische Feministinnen. Den Ratschlag meiner Mutter, dass ich mich in keinen chilenischen Mann verlieben soll, habe ich noch heute im Ohr. Im Laufe meines Lebens hörte ich immer wieder, dass die südamerikanischen Frauenhelden charmant und stolz seien. Fragt man einen Chilenen auf der Strasse nach dem Weg, wird man immer eine wegweisende Antwort erhalten. Lieber wird gelogen, als zugegeben, dass man(n) absolut planlos ist. Diese kleine Tatsache widerspiegelt die hiesigen Erwartungen an den Mann; in seinen Entscheidungen muss er bestimmt sein, Zweifel werden als schwach eingestuft. “Ich kann mich noch gut an ein Beispiel erinnern, als ich mir meiner Männlichkeit unsicher war. Als Teenager war ich in meinem Zimmer und habe mich im Spiegel begutachtet, als plötzlich mein Vater ins Zimmer kam und mich wortlos und verwirrt anschaute. Genau in diesem Moment fühlte ich mich extrem unwohl, als ob ich etwas Falsches getan hätte. Quasi nach dem Prinzip: Wir schauen uns selber nicht an, sondern schauen an”, so Ignacio. Ignacio ging auf eine gemischte Schule, dort wurde nicht nur geschaut, sondern auch angefasst. Es wäre normal gewesen, die Kolleginnen im Schulzimmer oder im Bus zu begrabschen. Erwachsene Personen, wie ein Onkel oder Vater, ermutigten gar das Hinschauen, wenn eine Frau vorbeilief. Man wächst auf und empfindet dieses Verhalten als normal, erzählt er. Doch das Hinterfragen des eigenen Handels kam langsam, als er Erfahrungen in Liebesbeziehungen sammelte: “Ich lernte achtsam aus jedem Fehler, wie wichtig die offene Kommunikation und das Zuhören ist. Doch auch hier geriet ich in einen Konflikt mit dem Männerbild. Über Gefühle sollten wir ja nicht reden, geschweige denn diese zeigen.”

Ignacio und Ximena sind seit 13 Jahren ein Paar und auch verheiratet. Zusammen haben sie zwei Kinder, die fünfjährige Ema und den achtjährigen Facundo. Zwei aufgeweckte Persönlichkeiten, die, während wir uns unterhalten, auf dem Spielplatz rumtollen. Ximena hat kürzlich ihren Job als Lehrerin an den Nagel gehängt. Somit ist Ignacio vorübergehend der alleinige Brötchenverdiener. Sie seien aber nicht glücklich darüber, denn es ist ihnen wichtig, dass die Kinder bewusst sehen, dass es unterschiedliche Rollen- und Familienmodelle gibt. Denn genau zuhause oder auch in der Schule wird man mit Geschlechterstereotypen konfrontiert, die bei einer Reproduktion wiederum zur gesellschaftlichen Normierung beitragen. Wie zum Beispiel getrennte Schulen oder die Farbenregel: Blau für Jungen, Rosarot für Mädchen. Ja, dies mag sich vielleicht etwas banal oder übertrieben anhören, doch findet genau da die erste Zuteilung statt, die uns ein Leben lang prägt. Im Austausch gesellt sich Facundo kurz dazu und meint ganz gelassen, dass Farben doch allen gehören. Seine selbstverständlicher Kommentar zeigt, dass manche Kinder dieser Generation eine andere Perspektive haben werden.

“Meine Freundinnen waren alle total verrückt nach Prince und fanden ihn äusserst attraktiv. Ich konnte dies zuerst gar nicht nachvollziehen, da ich dachte, dass ein richtiger Mann doch nur so von Muskeln strotzen müsse. Doch Prince änderte mit seinen sanften Gesichtszügen und extravaganten Looks dieses Erscheinungsbild und befreite mich auf eine gewisse Weise.”

Es ist eine besondere Herausforderung, aus den bereits ‘normalisierten’ Verhaltensmustern auszubrechen. Als junger Erwachsener fragte sich mein Cousin immer wieder, ob seine Männlichkeit genüge. Er erinnert sich an eine kleine Befreiung, die ihm geholfen hat, das Männlichkeitsbild ein bisschen farbiger zu sehen: “Meine Freundinnen waren alle total verrückt nach Prince und fanden ihn äusserst attraktiv. Ich konnte dies zuerst gar nicht nachvollziehen, da ich dachte, dass ein richtiger Mann doch nur so von Muskeln strotzen müsse. Doch Prince änderte mit seinen sanften Gesichtszügen und extravaganten Looks dieses Erscheinungsbild und befreite mich auf eine gewisse Weise.” Ignacios konstante Transformation in einen Mann frei von patriarchalischen Zügen ist ein langwieriger Prozess. Das Patriarchat sei wie ein Gespenst, das ihn immer wieder aufsucht. Wenn sein Sohn Facundo zum Beispiel mit eher ‘für Mädchen bestimmten’ spielen will, ist es auch schon vorgekommen, dass er sich selbst dabei ertappte, wie er seinen Sohn auf diese Wahl ansprechen wollte. Doch Ignacio hat den Willen und die Stärke zu fragen: “Woher kommt meine Reaktion?” Ihm ist es wichtig, aus den eingepferchten Verhaltensmustern auszubrechen und auch über aktuelle Themen in diesem Bereich informiert zu sein.

“Gewalt gehört den Männern. Sobald eine Frau eine aggressivere oder lautere Form des Ausdrucks wählt, wird sie als unsittlich und wild bezeichnet. Als ob die Männer Eigentümer der Gewalt wären.”

Dies hat sicherlich auch mit seiner Arbeit an der Universität Santa Maria zu tun. Mitte April 2018 kam es in ganz Chile zu Besetzungen von Universitäten durch Studentinnen und Unterstützer_innen. Ausschlaggebend dafür waren zahlreiche Berichte von sexuellen Übergriffen von Professoren an Studentinnen mit der Erfahrung, dass die Täter von allen staatlichen und institutionellen Seiten geschützt wurden. Die darauffolgenden Proteste entfachten einen Steppenbrand im ganzen Land. Ignacio ist ein klarer Befürworter: “Ich stehe absolut hinter dieser Aktion! Wenn wir die Geschichte der Menschheit anschauen, gab es keine soziale Bewegung, die sanft ans Ziel kam.” Die betroffenen Personen sind wütend, verletzt und empört. Vielen scheint diese Revolte zu extrem. Doch genau diese Unbehaglichkeit sorgt für neues Gesprächsmaterial am Familientisch. Die Konversation zwischen unterschiedlichen Generationen wird angekurbelt, Meinungen werden ausgetauscht, man reflektiert, überlegt und hinterfragt. Ximena fügt hinzu, dass das Unverständnis und die Empörung über die Feministinnen, die teils tanzend mit freiem Oberkörper mit Plakaten und Trommelschlägen auf Probleme aufmerksam machen wollen, eine Widerspiegelung der aktuellen Gesellschaft ist: “Gewalt gehört den Männern. Sobald eine Frau eine aggressivere oder lautere Form des Ausdrucks wählt, wird sie als unsittlich und wild bezeichnet. Als ob die Männer Eigentümer der Gewalt wären.”

Denn Chile ist immer noch ein überaus konservatives Land, wirtschaftlich liberal und laizistisch, doch es mangelt an politischen Initiativen. So hat Chile immer noch kein vollständiges Gesetz zur Gewalt an Frauen. Das Problem wird in diesem Land noch nicht verstanden; es wird auf die Beziehungen innerhalb der Familien reduziert. Junge Familien, wie diese von Ximena und Ignacio, versuchen ihren Beitrag zu leisten, indem sie ihren Kindern das Hinterfragen von Strukturen und vermeintlich ‘Normalem’ mit auf den Weg geben wollen. Wenn wir ehrlich sind, gibt es leider kein Handbuch, das uns erklärt, wie wir uns vollständig von Stereotypen befreien können. Ungleichheiten herrschen seit der Geschichte der Menschheit. Aber unsere Geschichte zeigt auch, dass wir einige Schritte in Richtung Gleichstellung machen konnten. Es fehlen noch viele und vielleicht werden wir auch nie ganz ankommen – doch wie die Familie von Ximena und Igancio zeigt, müssen wir in Bewegung bleiben – mit Konversation, mit Hinterfragen und Durchbrechen von scheinbar ‘Unveränderbarem’. Wer weiss, was Ema und Facundo mir beibringen werden, wenn sie mich eines Tages in der Schweiz besuchen werden.

 

Illustration: Tropicodemarte