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Eine Gedankenreise

Nicole Doppmann

Der morgendliche Novembernebel hängt dick zwischen den Häusern. Strassenlampen werfen einen Lichtkegel in dreckigem Orange auf den Asphalt. Hell genug, dass man glaubt, etwas erahnen zu können. Doch wirklich sehen kann man nichts.

“And the tenderness I feel, will send the dark underneath, will I follow?” fragt die singende Stimme aus dem Radio. Und ehe ich mich versehe, sitze ich wieder auf deiner Fensterbank, mit dir, rauchend, tagträumend. Doch das war im Frühling. Zurück bleibt nur ein flüchtiges Gefühl und je mehr ich mich anstrenge, es festzuhalten, desto schneller löst es sich auf. Was haftet, ist ein Nachgeschmack von Gewesenem, Erhofftem und Verpasstem.

Ein Blick, eine Berührung, ein Jahr mit dir. Ich staune immer noch, dass wir im gleichen verdammten Kaff gross geworden sind, ohne voneinander zu wissen. Wie oft stand ich schon neben dir an der Bushaltestelle wartend, dass das Leben endlich besser wird? Wie kann es sein, dass sich unsere Parallelen doch kreuzten?

Tausend Jahre zogen so schnell an mir vorbei und doch stand die Zeit still, wenn dein Kopf in der Grube meiner Schulter lag und ich meine kalten Fingerspitzen zwischen deinen Beinen wärmen konnte. Mit geschlossenen Lidern einfach so daliegend, war die Welt in Ordnung. Eine Welt, die ich mit dir entdecken konnte. Fernab von allem. Einfach weg von hier. Ich träumte von durchzechten Nächten, von verschwitzten Tänzen auf dem Dancefloor, von der Stille kurz vor dem Morgengrauen, von grossen Umarmungen und noch grösseren Gefühlen. In Gedanken war alles möglich. Denn waren wir nie zusammen in Paris, nicht in New York und auch nicht in Manila. Doch die Ruhe und die Geborgenheit, die ich bei dir fand, während ich einfach so dalag und meinen Gedanken nachhing, die waren echt.

Mein Herz setzt noch immer einen Schlag aus, wenn eine Nachricht von dir auf meinem Screen aufblitzt. Und noch immer stehen die zwei pinken Herzen neben deinem Namen. Ich konnte sie noch nicht löschen. Denn dann wärst du ein Name, wie alle anderen, gespeichert in meinen Kontakten. Ist dies jedoch der letzte Schritt, das Löschen, das Ausradieren, das Wegmachen, um vergessen zu können? Doch ich will nicht vergessen. Ich will mich erinnern.

Der Himmel färbt sich allmählich zu einem zarten Rosa. Die ersten Strahlen brechen durch die dunklen Wolken. Zuckerwatte, zuckersüss, mein Herz schmilzt. Vom Kitsch krieg ich Karies, doch das ist mir egal. Denn das mit dir war ganz wahr und wahrhaftig. Du und ich. Hals über Kopf strauchelnd, taumelnd, stach ich dir meine Liebe unter die Haut. Vier Blütenblätter und ein Fenster zum Meer zieren nun deine Beine, die dich zu neuen Abenteuern tragen werden. Und du schenktest mir Zuversicht, dass der Nebel sich lichten wird.

Ich war noch nie besonders gut in Mathe. Doch wenn sich zwei Parallelen kreuzen, tun sie dies erst in der Unendlichkeit. Vielleicht sind es auch keine Parallelen, sondern zwei gegenläufige Sinuskurven, die für immer in einem stetigen Gleichgewicht auseinanderlaufen, nur um sich in Zukunft wieder zu treffen. Jedenfalls hoffe ich das. Zumal die Reise erst begonnen hat.

Photocredits: Nicole Doppmann