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My Nails – That’s Hot(Nails)

Rahel Fenini

Wenn ich morgens, mittags, abends oder nachts auf meine Hände schaue, bin ich immer wieder aufs Neue entzückt. Seit etwa fünf Jahren zieren lange, gemachte – ergo FAKE – Acrylnägel meine Hände. Mal in einem Nudeton, mal in Glitzer oder Neon, mal in Almond-, Stiletto- oder Ballerinaform, immer hella long. Doch ganz egal, wie sie daherkommen: Meine Liebe für sie ist forever.

Going Strong Since 1997
Meine Liebe für Fake-Nails und Nail-Art ist nicht nur forever, sondern sie hält auch schon ewig. Schwamendingen, ca. 1997. Ich, 7, begleite mein Mami zum Einkaufen in den nahegelegenen Coop. Dort, an der hintersten Kasse, bei den Spirituosen und Zigipäckli sitzt sie: Meine Lieblingsverkäuferin, – meine Kindheits-Heroine, meine Nail-spiration. Keine andere Kasse wird bei unseren gemeinsamen Einkäufen frequentiert; egal, wie lange die Schlange auch ist, unsere Sachen werden nur bei der hintersten Kasse aufs Band gelegt. Denn nur so gelingt es mir, einen Blick auf die perfekt gemachten Nägel meiner Lieblingsverkäuferin zu erhaschen. Jedes Mal schmückt ein anderes Design ihre Finger: schwarz-weisse Streifen, ein grelles Pink oder gepunktet. Ich bin begeistert – und ein bisschen neidisch. So tolle Nägel möchte ich auch einmal haben! Ich teile meine Begeisterung ganz offen und zaubere ihr so ein strahlendes Lächeln aufs Gesicht. Wir verstehen uns, meine Lieblingsverkäuferin und ich. An ihrem letzten Arbeitstag schenkt sie mir Kekse und einen Teddybären – “für meine Lieblingskundin, dass du mich nicht vergisst”.

Sister Act
23 Jahre später habe ich mir meinen Kindheitstraum in puncto Nails definitiv erfüllt. Alle drei Wochen besuche ich den Salon meines Vertrauens und lasse mir dort von Annie oder David die Nägel machen (Shoutout an Hanami). Ein Besuch im Nagel-Studio ist Wellness und Empowerment zugleich. Im ruhigen 1:1 Setting spricht man über Gott und die Welt, wählt gemeinsam Farben und Formen aus – oder schweigt einen Moment gemeinsam. Das Girl am anderen Behandlungstisch ist keine Fremde, sondern eine Sister im Spirit. Und ähnlich wie auf der Toilette im Club macht man sich Komplimente und feiert das Aussehen der anderen – ganz spontan, ganz ehrlich. Im Nagel-Studio treffen für einen kurzen Moment die unterschiedlichsten Personen aufeinander – vereint in ihrer Liebe für Fake-Nails.

Me, My Nails – and You
Ausserhalb des Salons ist das mit der Liebe so eine Sache. Während die einen meine Begeisterung und mein Flair für gemachte – und vor allem lange, exzentrische – Nägel teilen, feiern oder zumindest teilweise nachvollziehen können, gibt es da auch “die anderen”. Mir ist selbstverständlich bewusst, dass was ich da an den Fingern trage, nicht allen gefällt. Muss es auch nicht; wäre es doch furchtbar langweilig, wenn wir alle dieselben (modischen) Vorlieben hätten. Und ganz ehrlich, ist es mir auch egal, wenn Freunde, Bekannte oder ein möglicher Love-Interest mit Entsetzen auf meine Hände blicken. I don’t care – I love it!

Doch gibt es da die “besonders anderen”. Die, die sich extrem schwer tun, mein feministisches Engagement mit meinen schimmernden, langen Fake-Nails zu vereinbaren. Feministinnen und Fake-Nails? Ein No-Go! Wie kann ich mich denn als selbstbestimmte, unabhängige Frau, die sich so konsequent gegen die Objektifizierung von Frauen und den male gaze einsetzt, einem vom Patriarchat geprägten Weiblichkeitsbild so bedingungslos hingeben? Nun ja, wie kann ich? Indem ich eben genau diese selbstbestimmte, emanzipierte Frau bin. Diese Frau, die ihre eigenen Entscheidungen trifft, die sich nicht dafür rechtfertigen muss, weiblich und sexy zu sein; diese Frau, die ihr eigenes Ding durchzieht und ihr Aussehen so modifiziert, wie es ihr gefällt – patriarchal-geprägte Schönheitstrends hin oder her.

Diese Frau, die Feministin und sexy Beauty-Queen zugleich ist. Weil sie es will, weil sie es kann und weil sie sich – for f***’s sake – nicht für das ein oder andere zu entscheiden hat.

Nicht weit davon entfernt sind die “besonders anderen 2.0”. Dazu gehören alle diejenigen (und hier spielt es keine Rolle, ob Frau oder Mann), für die Fake-Nails gleich stehen mit “Püppchen”, “oberflächliche Tussi” oder “Frau, die nichts tut, ausser schön auszusehen”. Auch hier reiht sich bei mir Anekdote an Anekdote; Geschichten aus dem Club, aus dem Bekanntenkreis oder von der Arbeit.

Es scheint fast so, als würde frau – mit all ihren Charakterzügen, Interessen, Fähigkeiten und Talenten – sofort verblassen, kommen die langen “Krallen” ins Spiel. Eine Schublade geht auf und ruckzuck verschwindet frau darin. Dann heisst es: Laut werden, kontern und abliefern, sodass frau gesehen wird – und nicht nur die “hübschen Nägeli”. Und das noch mehr als die Girls ohne Fake-Nails. Ein Trauerspiel.

Doch obwohl das Ganze ziemlich ätzend und auch anstrengend ist, sind die Momente, in denen die “besonders anderen 2.0” realisieren, dass frau eben beides kann, d.h. fantastisch aussehen UND fantastisch abliefern (egal wo – ob im Job, in der Politik, im Sport oder zu Hause), umso schöner. Ja, es sind diese erstaunten, verdatterten Gesichter, das stille Eingeständnis ihrer verkürzten Wahrnehmung und die darauffolgenden, zurückhaltenden Komplimente à la “Das hätte ich von dir jetzt nicht erwartet!”, die mich in diesen Momenten irgendwie besonders freuen. Während ich die Worte mit einem breiten Lächeln entgegennehme, hebt sich in meinen Vorstellungen mein perfekt manikürter Mittelfinger in die Höhe und in meinen Ohren ertönt Lilly Allen’s Fuck you, fuck you – very very much.

Und so sind meine Fake-Nails eben nicht nur geliebtes Accessoire, sondern auch treue Begleiterinnen in meinem Kampf gegen längst überholte, einengende Rollenbilder und gegen stereotypisierendes Schubladendenken. Meine Fake-Nails empowern mich, sie sind mein täglicher Akt der Rebellion und machen mich – und meine feministische Arbeit – zudem, was wir sind.

Khloe Knows Best!

Going Forward in 2020
Als ich dann vor einigen Wochen von einer Freundin via Instagram informiert wurde, dass es in Zürich nun ein neues Nagel-Studio gibt, das fantastische Nail-Art anbietet und das Ganze als künstlerischen Akt zelebriert und manifestiert, haben mein siebenjähriges- und dreissjähriges-Ich natürlich Freudensprünge gemacht. An prominenter Lage an der Langstrasse, direkt neben dem Rothaus, zaubern Yvee und Ivana Frauen bis Männer seit Mai 2020 ihre Traumnägel an die Finger. Egal ob mit oder ohne Verlängerung, ultra bunt oder dezent, mit schlichtem French-Design oder mit Flammen, bei HotmailHotnail gibt es alles.

Angefangen als kleines Studio in den Ateliers von Freunden und Familie, hat sich HotmailHotnail zu einem beliebten Hot-Spot für Nailliebhaber*innen entwickelt. Von früh bis spät gehen heute an der Langstrasse Mädels bis Jungs ein und aus; Termine sind nur schwer zu kriegen. “Ja, es läuft wirklich gut”, erzählt mir Yvee bei meinem Besuch im Studio. “Unsere Termine werden jeweils auf Instagram geposted. Die letzten Male waren wir innerhalb von zwei Tagen komplett ausgebucht, zudem schreiben uns Leute immer wieder spontan an, um einen Termin zu kriegen.”
So wurde für die #heroines Yvee und Ivana, die beide im Kunst-Bereich tätig sind bzw. in diesem studieren, aus dem temporären Projekt HotmailHotnail in kürzester Zeit ein Vollzeitjob. Wie lange es das Projekt und Studio in Zukunft noch geben soll, ist offen. Gemäss Nachfrage könnte es sich auch hier um eine forever lovestory handeln.

Ivana und Yvee – die Nail-Queens von Zürich

Doch, wieso genau Nägel, frage ich Yvee bei unserem Treffen. “Sowohl Ivana und ich waren schon immer fasziniert und begeistert von Nail-Art. Bei einem Trip nach Mazedonien konnte Ivana schliesslich von einem alten Nagel-Studio Acryl mit nach Zürich nehmen. Daraufhin haben wir uns bei ihr zuhause getroffen, haben gemeinsam herumgetüftelt und die Idee für das Studio entwickelt. Bei unserer Arbeit steht ganz klar die Kunst im Fokus. Nail-Art ist für uns eine Kunstform – egal ob wir girly Nails zaubern, oder eine Acryl-Modellage für ein Foto-Shooting kreieren. Uns macht es Freude, auf kleinster Fläche ein perfektes Kunstwerk zu schaffen.”

Damit möchten die Gründerinnen von HotmailHotnail auch ganz bewusst mit dem traditionellen Image der Frau mit den gemachten Nägeln brechen. “Uns ist bewusst, dass speziell lackierte oder lange Nägel nach wie vor gewisse, auch negative, Assoziationen hervorrufen – wie zum Beispiel ‘Frauen mit gemachten Nägeln können nur schlecht (handwerklich) arbeiten’ oder ‘Frauen machen ihre Nägel nur, um Männern zu gefallen’. Das ist Unsinn und steht definitiv nicht im Fokus unseres Projektes. Unsere Kundschaft könnte diverser nicht sein; von der linken Aktivistin zum begeisterten Teenager bis hin zum männlichen Nail-Enthusiast. Unsere Kund*innen kommen zu uns ins Studio, weil sie Freude an verrückten, frechen Nägeln haben und sich etwas gönnen möchten.” Das klingt wie Musik in meinen Ohren. Als ich das Studio verlasse, sind zwei Sachen klar: 1) Der nächste freie Termin gehört mir, und 2) HotmailHotnail steht für Individualismus, Mut und Empowerment – so wie alle Personen, die ihre wunderbaren (Hot)Nails mit Stolz tragen!

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Nails for @7plus19.0o ✨

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